Hokuspokus Hexenschuss. Engelbert Humperdinck nach 100 Jahren. Bd. 2 / Hrsg. von Tim Michalak und Christian Ubber – Lohmar: ratio-books, 2022. ‑ 111 S.: Notenbsp., Abb.
ISBN 978-3-96136-166-3 : 14,80 € (kart., Online-Version auf dem OPUS-Server der Universitätsbibliothek)
Kaiserwette(r). Engelbert Humperdinck in seiner Zeit / Hrsg. von Matthias Henke – Siegen: universi – Universitätsverlag Siegen, 2022. – 396 S.: Notenbsp., Abb. (Si! Kollektion Musikwissenschaft ; 6)
ISBN 978-3-96182-133-4 : 20,50 € (kart.)
Nach Biographie (s. info-netz-musik) und Ausstellungskatalog zum 100. Todestag (s. info-netz-musik) ist nun auf zwei weitere Publikationen hinzuweisen, die im Nachhall dieses Ereignisses erschienen sind. Es galt, die Ernte einzufahren und editorisch zu dokumentieren, die eine intensivierte Beschäftigung mit der schillernden Figur dieses Komponisten hervorgebracht hatte. Die Fülle noch näher aufzuklärender und zu bewertender Aspekte seines Lebens und Wirkens ist erstaunlich, und es wird noch längere Zeit beanspruchen, sie voll auszuschöpfen. Das kann auch nicht anders sein bei einem Komponisten, der zwischen zwei Kulturbegriffen schwankte, einem offenen, dem er in seiner früheren Lebensperiode folgte, und einem chauvinistisch verengten seiner späteren Zeit, während er der Spießerideologie des Kaiserreichs unterlag.
Der von dem Siegener Musikwissenschaftler Matthias Henke herausgegebene Sammelband Kaiserwette(r) dokumentiert die Siegburger Tagung zum 100. Todestag, die sich mit Fragen der Rezeption (darunter mit Tonaufnahmen aus der Kaiserzeit und zwei vom Mitteldeutschen Rundfunk verbreiteten Uraufführungen in den Jahren 1928 und 1930 sowie mit der Aufführungsgeschichte von Königskinder), der Biografie (Humperdinck und die Kaiser, Humperdinck als Stipendiat der Frankfurter Mozart-Stiftung, als Mitglied der Berliner Akademie der Künste oder als musikalischer Gesellschafter auf der Kruppschen Villa Hügel in Essen), des Werks (Humperdinck und das Kaiserliederbuch, seine Musik zu Vollmoellers Das Mirakel, und seine Schauspielmusiken zu Dramen Shakespeares in Inszenierungen von Max Reinhardt) und der Kollegen und Kooperatoren (Anton Bruckner, Richard Strauss und Elsa Bernstein) befasste. Drei Beiträge waren den Königskindern gewidmet. Constanze Nogueira Negwer betrachtete die gesamte Inszenierungsgeschichte, Christian Ubber speziell die Rolle von Humperdincks Sohn Wolfram bei den „arisierten“ Inszenierungen der Königskinder in der Fassung als Oper während der nationalsozialistischen Diktatur, und Birgit Kiupel nähert sich der jüdischen Librettistin der Urfassung der Königskinder als Melodram, Elsa Bernstein, an. Hier ist es besonders enttäuschend zu sehen, wie sehr sich Humperdinck selbst zu Lebzeiten opportunistisch den antijüdischen Klischees anpasste und bereit war, seine Librettistin entweder zu verleugnen oder für den Misserfolg der ersten Fassung des Stücks als Melodram verantwortlich zu machen, und wie er sich schamlos von ihr distanzierte und das Libretto bearbeitete.
Der Band ist dokumentarisch eingerichtet und enthält jede Menge wünschenswerter Einsichten in die Quellen durch umfangreiche Zitate und Abbildungen. Das gilt noch mehr für den zweiten Band des Kommunalunternehmens der Kreisstadt Siegburg, in dem die Musikwerkstatt Engelbert Humperdinck und das Stadtmuseum Siegburg ihre unter dem Titel „Hokuspokus Hexenschuss“ begonnene Dokumentation zu Biografie und Werk des Komponisten fortsetzt.
Bernhart Ohnesorge präsentiert familiäre Briefe von Humperdincks Frau Hedwig, Herbert Spicker versucht, das Geburtszimmer Humperdincks im Gebäude der Siegburger Lateinschule zu lokalisieren, Henry C. Brinker geht den Spuren nach, die Humperdincks Aufenthalte auf der Insel Usedom im Werk hinterlassen haben, Christian Ubber entdeckt und enthüllt Spuren von Humperdincks exotischen kulinarischen Vorlieben im Werk. Der Hochschullehrer und Liedbegleiter Dominikus Burghardt macht Anmerkungen zu Humperdinck als Liedkomponisten, zwei Beiträge (Claudius Hille und Christian Ubber) befassen sich mit Inhalt, Kompositionsweise und Aufführungsgeschichte von Humperdincks letzter Oper Gaudeamus.
In beiden Bänden geht es sozusagen ums Eingemachte, um eine besonders intensive Auseinandersetzung mit Quellen und Dokumenten, die bisher im Verborgenen lagen, unbeachtet blieben oder verschwiegen wurden. Ihre aufmerksame Rezeption setzt allerdings ein besonderes Interesse an diesem Komponisten voraus, der langsam aus dem Schatten der Geschichte herauszutreten beginnt und hier besonderes Profil gewinnt. Insbesondere die melodramatische Erstfassung von Königskinder, aber auch andere langsam zur Wiederaufführung gelangende Werke Humperdincks, wie seine Shakespeare-Ouvertüren und andere tondichterische Stücke rechtfertigen ein solches Interesse allemal.
Peter Sühring
Bornheim, 26.09.2023