Paul McCartney: 1964: Augen des Sturms. Fotografien und Betrachtungen. Mit einer Einl. von Jill Lepore. Aus dem Engl. übers. von Conny Lösch. – München: C.H.Beck, 2023. – 335 S.: durchg. bebildert
ISBN 978-3-406-80300-0 : € 49,90 (Hardcover)
Vor ein paar Tagen auf Instagram: Paul McCartney kündigt weitere Konzerte seiner Welttournee an. Nach Auftritten in Australien geht es einen halben Erdball weiter nach Südamerika. Vermutlich wird er die 1962 erschienene Debüt-Single der Beatles, Love me do, singen, nun jedoch mit angerauter Stimme unter angegrautem Pilzkopf. McCartneys Begleitband jedoch wird dafür sorgen, dass der Sound so knackig und frisch wie vor sechs Jahrzehnten klingt. Und auch das Begeisterungslevel wird demjenigen gleichen, das Paul McCartney seit den frühen 1960er Jahren begleitet. Wie sich diese Euphorie anfangs anfühlte, wie die Beatles sich selbst und ihre Umwelt wahrnahmen, kann in dieser Veröffentlichung mit bislang unbekannten Fotos nachempfunden werden.
Paul McCartneys Biografie ist bestens erschlossen. Umfassend und detailliert zugleich liegen Informationen, Analysen und Interpretationen vor. Dass neue Erkenntnisse diesem Bild weitere Facetten zufügen, ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Die Wiederentdeckung der Fotos aus den Jahren 1963/1964 kann man deshalb als spektakulär bezeichnen. Aufgenommen hat sie überwiegend der junge McCartney zu einem Zeitpunkt, als die Beatles den entscheidenden Schritt aus den Kellerclubs und Hafenkneipen in professionelle Tonstudios und Konzerthäuser geschafft hatten. Von Großbritannien ausgehend breitete sich nahezu weltweit eine als „Beatlemania“ überschriebene Euphorie aus, die über die popkulturell interessierte Öffentlichkeit hinwegfegte. Die Augen dieses Sturms waren nicht nur die der ekstatischen Fans. Auch die unzähligen auf die Beatles gerichteten Kamera-Objektive zählten zu diesen und gaben dieser Publikation und einer Ausstellung in der renommierten National Porträt Gallery in London ihren Namen.
Eher zufällig, so schreibt es McCartney in seinem Vorwort (S. 9), sei man auf das Konvolut gestoßen, als er 2020 eine Fotoausstellung mit Bildern seiner verstorbenen Frau Linda vorbereitete. Nahezu eintausend Fotos seien zum Vorschein gekommen, die er während eines Vierteljahres von Dezember 1963 bis Februar 1964 im Rahmen einer Konzertreise aufgenommen hatte. Ausgestattet mit einer neuen 35mm-Kamera war Paul McCartney dem immer wilder werdenden Trubel um die Band nicht mehr hilflos ausgeliefert, sondern konnte diesem aktiv begegnen. Indem er sein Objektiv auf diejenigen richtete, die ihn beobachteten, vervollständigte McCartney die jeweilige Szene. Denn es sind gerade diese Menschen, durch die vier junge Männer aus Liverpool erst zu den bewunderten Beatles wurden. Paul McCartney war sich dieser Beziehung bewusst und er nahm sein Umfeld als Teil der Inszenierung wahr. Viele Nachahmer findet er seitdem bei denjenigen Popstars, die so gerne Konzert-Selfies mit dem Publikum im Hintergrund posten. Der Unterschied ist, dass McCartney die Menschen ernst zu nehmen schien, indem er sich selbst zurücknahm.
Sechs Stationen sind es, auf denen die Leserschaft die Beatles begleitet. Nach Konzerten in Liverpool, London und Paris machten sich die vier Musiker auf die Reise nach New York, Washington D.C. und Miami. Die beiden Auftritte in der Ed-Sullivan-Show gehören bis heute zu den herausragenden Ereignissen amerikanischer TV-Geschichte. Der Fotoband folgt dieser Reiseroute in einzelnen Kapiteln, denen Paul McCartney jeweils einleitende Texte voranstellt. Diese chronologische Reihung macht nicht nur musikhistorisch Sinn. Deutlich werden hierdurch sowohl die Entwicklung, die Paul McCartney als Fotograf durchlief, als auch die unterschiedlichen Phasen der Gruppendynamik, in denen sich die vier jungen Musiker jeweils befanden. Ersteres wird von Rosie Broadley, Chefkuratorin in der National Portrait Gallery, in einem Essay eingehend gewürdigt (S. 313ff). Von den intimen Porträts aus Liverpooler Künstlergarderoben über atmosphärische Straßenszenen in Paris und experimentelle Aufnahmen mit Spiegel- und Lichteffekten bis hin zu den detailverliebten Momentaufnahmen und (nun in Farbe) Urlaubsschnappschüssen in Miami geben die Bilder durchaus den zeitgenössischen Stand moderner Fotografie wieder. Aufschlussreich ist darüber hinaus der Blick McCartneys auf seine Bandkollegen und Personen aus dem Beatles-Umfeld wie Jane Asher, Brian Epstein oder George Martin. Wir sehen einen nachdenklichen John Lennon hinter der Bühne in Liverpool (S. 42), einen schlafenden George Harrison im Auto (S. 94), den in sich gekehrten Ringo Starr in der Garderobe (S. 45) – der Kontrast zu den vor Lebensfreude, anarchischem Humor und Selbstbewusstsein überschäumenden Auftritten und Pressekonferenzen könnte nicht größer sein. Es überrascht nicht, dass diese vier jungen Männer, Anfang 20 und im Zentrum einer ausufernden Begeisterung, Augenblicke der Ruhe, der Erschöpfung hatten. Dass wir als Betrachter so nah an sie herankommen, fast schon Teil der intimen Szene werden, ist dennoch phänomenal. Nicht zuletzt liegt das auch daran, dass Paul McCartney die Bilder mit kurzen, sehr persönlichen Hinweisen beschriftet hat. Wir blättern durch die Seiten wie in einem Familienalbum und wenn wir unter zwei Fotos von Lennon und Harrison den Satz „Ich liebe und vermisse sie beide“ (S. 282f) lesen, kann man sich des Gefühls aufrichtiger Rührung kaum entziehen.
Gerade in seinen in den USA aufgenommenen Bildern wandte sich Paul McCartney immer wieder dem Alltagsleben zu, wie er es zu sehen imstande war. Seine Sicht auf Gleisarbeiter oder auf die nur wenige Zentimeter entfernte Waffe eines Polizisten (S. 247) führen auch den Betrachter aus dem intimen Beatles-Zirkel hinaus. Die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen dem Leben einer Pop-Band und der gesellschaftlichen und politischen Realität beschreibt in hervorragender Weise die amerikanische Historikerin Jill Lepore in ihrer Einleitung „Beatleland: Die Welt 1964“ (S. 19ff). Denn so unbeschwert die Musik aus heutiger Sicht auch klingen mag, sie stammt aus einer Zeit, in der sich die Welt im Umbruch befand: John F. Kennedy wurde ermordet, die Bürgerrechtsbewegung in den USA fand immer mehr Zulauf, in Großbritannien wurde mit Harold Wilson nach einer als lähmend empfundenen Dekade ein Labour-Politiker zum Premierminister gewählt. Lepore stellt überzeugende Parallelen zu den Fab Fours her, auch wenn sich die Band – zumindest in diesen Jahren – nur selten politisch äußerte.
Der Sturm, in dem sich die Beatles in den 1960er Jahren befanden, mag etwas abgeflaut sein. Ruhig ist es um Paul McCartney glücklicherweise nicht geworden. Auch deshalb kann diese Bilderkollektion eine solche Wirkung entfachen, stammt sie doch nicht aus dem Nachlass, sondern aus dem vollen Leben eines Musikers, der uns Nachkommenden und -folgenden noch allerhand zu erzählen hat.
Michael Stapper
München, 30.08.2023