Carsten Brocker: KRAFTWERK – Die Mensch-Maschine. Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition. – München: edition text + kritik, 2023. – 448 S.: 41 Abb. (neue musik wissenschaft. Schriften der Hochschule für Musik Dresden ; 2)
ISBN 978-3-96707-717-9: € 59,00 (Pb; auch als eBook)
Im Jahr 1960 erschien das Buch musica ex machina – Über das Verhältnis von Musik und Technik des damals noch jungen Musikkritikers Fred K. Prieberg. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Transistor als elektronisches Bauelement gerade erst angefangen, die Elektronenröhre zu verdrängen, und von „Integrierten Schaltungen“ wusste noch kein Gerätehersteller.
Die Verwendung von Spannungssteuerung (voltage control) zum Bau der ersten modularen Synthesizer sollte noch fünf Jahre dauern, und diese Bezeichnung „Synthesizer“ für Musikinstrumente war noch ganz unbekannt. Das hat sich bekanntermaßen radikal geändert und die „Maschinenmusik“, die heute trotz eines massiven Analog-Revivals größtenteils eine Musik virtueller (Software-)Maschinen ist, bestimmt alle Bereiche unseres Lebens.
Die Gruppe KRAFTWERK hatte im Deutschland der frühen 1970er-Jahre bis zum allgemeinen Siegeszug des Punk-Rock um 1978 Pionierstatus und ihre beste und entscheidende Zeit. In einer Fernsehsendung aus jenen Jahren hieß es: „Florian Schneider und Ralf Hütter reisen nicht aufs Land und nicht in die Schwerelosigkeit; KRAFTWERK schließen sich im Studio ein und reisen in die Zukunft. Nur der Synthesizer darf mit.“
Am 30. Oktober 2021 war die damalige Zukunftsversion längst Vergangenheit, als es um eine bedeutende Ehrung für die Gruppe bzw. das Lebenswerk des noch verbliebenen Kraftwerkers Ralf Hütter ging: die Aufnahme in die Rock & Roll Hall of Fame und die Verleihung des „Early Influence Award“.
Inzwischen nehmen Veröffentlichungen über KRAFTWERK zunehmend Platz von Bücherregalen oder Speicherplatz in eBook-Readern in Anspruch und der Anspruch und die Zielsetzung dieser Publikationen ist recht unterschiedlich.
Da gibt es die Perspektive des Fans und Verehrers, wie z.B. im 2005 erschienenen Buch „KRAFTWERK – Mensch, Maschine und Musik“ von Pascal Bussy erkennbar. Dann gibt es eine große Anzahl von Publikationen, auch aus dem englischsprachigen Raum, die die Band im Kontext von Krautrock und Kosmischer Musik betrachten. Außerdem, von besonderer Bedeutung, die autobiografischen Darstellungen der Mitglieder aus KRAFTWERKs klassischem Line-Up: von Wolfgang Flür („Ich war ein Roboter“, 1999) und das herausragende Buch von Karl Bartos („Der Klang der Maschine“, 2017), aus dem in Carsten Brockers Buch ausgiebig zitiert wird.
„Was gibt es da noch neues?“ könnte man in Bezug auf „KRAFTWERK – Die Mensch-Maschine“ fragen, und einen ersten Hinweis, bevor man den Untertitel liest, bietet bereits die Abbildung auf dem Cover: ein Spektrogramm, wie es auf Seite 383 wiederkehrt. Vorstehend schreibt der Autor auf S. 382: „Die Darstellung von Musik in Form von Klangspektren ist angesichts der hohen Informationsdichte allerdings nur auf singuläre Klangphänomene anwendbar (…)“
Das Spektrogramm verweist auf computergestützte Musikanalyse mit Hilfe der Betrachtung eines ausgewählten Ausschnitts aus dem Frequenzspektrum eines Musikstückes.
Und wenn im vorstehenden Zitat von einer „hohen Informationsdichte“ die Rede ist, so könnte man diese Formulierung auch auf den Inhalt und Umfang des vorliegenden Buches beziehen: eine außerordentlich akribische, detaillierte, umfassende und vor allem auch erfreulich kritische Darstellung des Phänomens KRAFTWERK.
Die Zielsetzung des Buches, einer Dissertation, ist nach den Worten des Autors, „(…) die Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition bei KRAFTWERK zu untersuchen. Hierfür wurden analog zur Historie der Gruppe soziokulturelle, musikalische sowie technologische Entwicklungen beleuchtet und dabei in Augenschein genommen, inwiefern KRAFTWERK im Bereich der Popularmusikgeschichte Prozesse angestoßen haben und/oder von ihnen beeinflusst worden sind.“ (S. 405) Und: „Versucht man sich an einer Zusammenfassung der für KRAFTWERK typischen klanglichen Charakteristika sind neben Sequencing, elektronischen Klangfarben, vocoderisierter und synthetischer Sprache respektive Gesang daher sicher auch die zahlreichen eingängigen Hooklines zu nennen, die einen wesentlichen Teil der musikalischen Qualität der Gruppe ausmachen.“ (ebd.)
Der ausgebildete Musikwissenschaftler, ausübende Musiker und Dozent Carsten Brocker analysiert im Buch anhand von zahlreichen Beispielen genauestens Strophe für Strophe, den Wechsel von Tonarten, die Verwendung perkussiver Elemente, den Einsatz von Klangfarben etc., um dem Geheimnis so erfolgreicher Stücke, wie Autobahn, Das Modell oder Trans Europa Express nachzuspüren.
Über die „Problematik der musikalischen Analyse in der Popularmusik“ und eventuelle „Terminologische Unschärfe(n)“ liest man im Rahmen einer Einleitung, bevor es dann zum Krautrock geht, einem Genrebegriff, dem KRAFTWERK äußerst kritisch gegenüberstanden, und zu den ersten technischen Entwicklungen hinsichtlich von Studio- und Instrumententechnik.
Wer über die im Buch enthaltene Kurzdarstellung weitere Informationen zu Krautrock erhalten möchte, dem seien die Bücher von Alexander Simmeth (Krautrock transnational, 2016) und Jan Reetze nachdrücklich empfohlen (Times & Sounds, 2020, englischsprachig).
Weiter geht es in Brockers Buch mit der experimentellen Frühphase von KRAFTWERK, mit „Ralf und Florian“ und dem internationalen musikalischen Kontext, auch im Hinblick auf die Verwendung von elektronischen Gerätschaften in Pop und Rock und in der experimentellen Avantgarde der Zeit.
Wer hat eigentlich das erste Drumpad der Musikgeschichte erfunden? Ab S. 148 ist die Entstehung dieser revolutionären Innovation bei KRAFTWERK dargestellt, – inklusive der bis heute andauernden Unstimmigkeiten bezüglich der Urheberschaft dieser Erfindung.Der Erwerb eines Sequencers aus deutscher Produktion, der „Synthanorma“ („in vielerlei Hinsicht den Konkurrenzprodukten von Moog oder ARP überlegen“, S. 187), erwies sich für KRAFTWERK als die „technisch weitreichendste Anschaffung“ jener Jahre (S. 186).
Um die technologischen Entwicklungen anschaulich zu beleuchten, wurden Interviews mit Protagonisten geführt oder entsprechende ausgewählte Aussagen aus fremdgeführten Interviews sinnvoll integriert.
Wenn mit Kapitel 4 (Ab S. 153) der eigentliche Einstieg in die Phase des prägenden KRAFTWERK-Sounds beginnt und im Verlauf die interessante Frage gestellt wird, ob es sich bei den Mensch-Maschinisten um die „Urväter des Technos“ handele (S. S. 271 ff.), einer Bezeichnung, die nach Meinung des Rezensenten eher der Berliner Band Tangerine Dream gebührt und ihrem typischen Stil mit schnellen Pattern und Sequenzen, deutet sich im großen Folgekapitel bereits die Zeit der Stagnation an, über die auch Flür und Bartos in ihren Autobiografien berichten: „Die 1990er Jahre – Stagnation und Rückzug“ (S. 327 ff.). Nicht verwunderlich, denn der elektronische Underground mit seinen einstmals ganz neuen, ungehörten Klängen ist längst „zum Massenphänomen“ geworden, wie hier einführend nachzulesen ist.
Musikalische Neuerungen, die mit der Benutzung von Technik verbunden sind, kamen da längst aus anderen Zusammenhängen, hier sei beispielhaft das Genre des Japanoise genannt. Freunde dieses Genres können mit Software, wie der „Bentō noise box“ eine Reise zurück in die 1970er-Jahre antreten, als nicht nur KRAFTWERK mit einer bei Live-Auftritten riskanten Technologie zu kämpfen hatte, mit „Feedback networks, unstable oscillators, shaky fat quivering filters, distorted mayhem (…)and a tape recorder“ (Zitat).
Was bleibt einer einst erfindungsreichen und innovativen Band wie KRAFTWERK, die auch im Hinblick auf die clevere Bildung des eigenen Images Maßstäbe setzte, nun anderes als die „Kanonisierung des Oeuvres“ und dessen Konservierung und Pflege? Carsten Brocker beschreibt dies ab S. 394, bevor dann mit S. 405 der „Ausblick“ beginnt, aus dem hier zu Beginn schon zitiert wurde. Zum Schluss, mit der Bibliografie, dem Verzeichnis der vielen Internetquellen und der sehr guten Diskografie, bleibt nur ein Wunsch offen: ein Index oder Namensregister.
Dieses Buch ist das ideale (Weihnachts-)Geschenk für musikgeschichtlich interessierte Technikfreunde oder für technikinteressierte Musikfreunde, für Synthesizer-Nerds, für Anhänger von Electro und Electro Funk und House und Techno, die wissen möchten, wovon sich diese Genres ableiten, für allgemein kulturgeschichtlich interessierte Klangkünstler (egal ob *innen oder *außen), für Menschen, die den Autor begleiten möchten auf seiner spannenden Reise in eine Welt, wo Utopien noch möglich schienen, oder wie es 1986 bei KRAFTWERK hieß: „Es wird immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen“.
Manfred Miersch
Berlin, 11.10.2023