Rebecca Unterberger: Zwischen den Kriegen, zwischen den Künsten. Ernst Krenek – „Beruf: Komponist und Schriftsteller“. – Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019. – 1010 S.: s/w-Abb. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte ; 384)
ISBN 978-3-8253-6869-2 : € 138,00 (geb.)
Herausragende germanistische Dissertationen ehrt die Österreichische Gesellschaft für Germanistik jährlich mit dem Wendelin Schmidt-Dengler-Preis, benannt nach dem 2008 verstorbenen Vorstand des Instituts für Germanistik an der Universität Wien sowie hochrangigen Experten und Herausgeber österreichischer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 2015 honorierten die Juroren ein in der Tat herausragendes Mammutprojekt, das sich mit einem sprichwörtlichen Mammutphänomen des 20. Jahrhunderts befasste: dem vielgestaltigen Komponisten Ernst Krenek (1900-1991). Dem Komponisten? Nicht nur oder nur zum Teil bzw. sowohl als auch. Schließlich verstand sich der gebürtige Österreicher schon vor emigrationsbedingter Annahme der US-Staatsbürgerschaft frühzeitig als berufener Journalist und Schriftsteller. Wie sich diese Konstellation in der Phase Zwischen den Kriegen, zwischen den Künsten – so der Haupttitel ihrer prämierten Arbeit – verewigte, analysiert die Germanistin Rebecca Unterberger, Jahrgang 1983, in einem ziegelsteingroßen Druckerzeugnis, dessen überreicher Schatz an Sachgehalt, Informationsdichte, Substanz und Sprachintellekt sich in schwindelerregenden Dimensionen vor dem erstaunten Auge ausbreitet. Alle Ehre macht das Ergebnis auch Unterbergers transdisziplinären Ambitionen. So entstand die Arbeit innerhalb des FWF-Projekts Österreichische Literatur und Kultur der Zwischenkriegszeit bei Primus-Heinz Kucher an der Universität Klagenfurt und präludierte Unterbergers dortiger Postdoc-Assistenz im FWF-Projekt Transdisziplinäre Konstellationen in der Österreichischen Literatur, Kunst und Kultur der Zwischenkriegszeit.
Entsprechende Vorgaben, den schriftstellerischen Krenek für ein kulturgeschichtliches Epochenbild in Dienst zu nehmen, existieren reichlich. Denn parallel zu den ersten spektakulären Symphonien und Opern im expressionistischen Fahrwasser griff schon der Mittzwanziger mit gelehriger Feder in keineswegs nur musikbezogene kunstästhetische und kulturpolitische Debatten ein. Fachorgane und führende Tagespresse des deutschsprachigen Raums, interessiert an streitbaren Diskutanten, boten ein Forum. Schließlich stand der Name Krenek, in seinem Widerspruchsgeist beeinflusst vom Landsmann Karl Kraus, bald für ein persönliches, humanistisches Ideal, das ihn um 1930 mithin an den Rand der Entscheidung führte, die Musik komplett gegen das publizistische Wort einzutauschen. Dies wundert kaum. Weit mehr als nur Kommentar zur neuesten Eigenkomposition oder selbstvertonte Opern- und Lieddichtung, positioniert sich Kreneks Schrifttum vielschichtig und variabel innerhalb virulenter kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Debatten Mitteleuropas. Zeitlich bewegten sich die hier behandelten Sachgebiete – um aus Kreneks österreichischer Perspektive zu sprechen – zwischen dem Zusammenbruch der Donaumonarchie und dem reichsdeutschen Anschluss Restösterreichs: Avantgarde, Neue Musik, Rolle von Oper und Theater, Neoklassizismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus, Filmästhetik und Mechanisierung der Künste, Popularmusik, politische und kulturelle Mission Österreichs, zeitgenössische Belletristik, Reisebericht mit politischer Konnotation.
Dem Großaufgebot der inhaltlichen Aspekte in Unterbergers Erarbeitung, allein den Nuancierungen des methodischen Zugriffs an dieser Stelle auch nur annähernd gerecht werden zu wollen, wäre Anmaßung und Verkennung. Legitim bleibt der Versuch eines hypothetischen Rasters. Eine von acht einleitenden Bemerkungen bezieht Stellung zum künstlerisch auch angefochtenen Prinzip der Krenekschen Stilwechsel: keine vorweggenommene postmoderne Beliebigkeit, sondern konsequent überlegtes, in sich schlüssiges Ausdrucksethos. En gros aber markieren sieben Hauptkapitel weitläufige thematische Areale, die äußerlich zur biographischen Chronologie tendieren, intertextuell dagegen korrespondieren können. Die hierarchische und klug proportionierte Gliederung in Subkapitel auf bis zu vier Ebenen gibt der Stoffmenge lesefreundliche Struktur. Und wer im detaillierten Inhaltsverzeichnis hinter einem Zitatfragment das Thema eines Unterkapitels erahnt, kann von dessen separater Lektüre profitieren.
Im Grunde gestaltet Unterberger ein riesenhaftes, summarisches Fresko der vergleichenden Textkritik, Quellenauswertung, Diskussion der Forschungsstände und Eigeninterpretation. Fußnoten – oft seitenübergreifend – sind Legion. Philologische Akribie geht zitiertechnisch bis in feinste Textfasern wie allen von neuer Rechtschreibung abweichenden Schreibweisen, die konsequent vom redaktionellem „[sic]“ flankiert sind.
Ein weiterer zentraler Befund der Einleitung zielt auf Kreneks häufige Selbstbezüglichkeit in essayistischen Schriften und deren Eigenbewertung in späteren Sammelbänden. Hieraus gewinnt Unterberger einen entscheidenden Impuls für ihre eigene, innovative Lesart: „Dieser Übercodierung haftet zum einen ein defensives Moment an: Tatsächlich wurde Kreneks Schreiben mitunter als defizitäre (Nur-)Legitimierung für das kompositorische Œuvre abgeurteilt (…). Zum anderen fingiert die großzügige Bereitstellung von ‚Fakten‘ aus erster Hand, von Kon- und Intertexten die Möglichkeit einer einmaligen, ja sakrosankten Deutung der Schriften, obgleich der Verfasser zu je anderen Zeiten je andere Motive akzentuiert (oder ‚vergessen‘) hat. Das nährt den Verdacht, dass eine Annäherung an Kreneks Schaffen auch die Bereitschaft voraussetzt, Krenek mit Krenek gegen Krenek zu lesen. Das meint: den (…) sanktionierten Textkorpus mit dem tatsächlichen, soweit heute noch greifbaren Textbestand (…) zu konfrontieren, um idealiter – auch für unbekanntere Schriften – Unbekanntes bzw. neue Nuancierungen, neue Gewichtungen offenzulegen.“ (S. 49)
Welche Grundmotive geben den Takt für die Hauptkapitel vor? „Mitunter neuerschlossenes Material zu dokumentieren“ und „das diskursive Setting zu entwickeln, das der Krenek’schen Feuilletonistik maßgebend eignet“ (S. 53), reklamiert Unterberger für den Einstieg „Zeit-Dokumente zur frühen Krenek-Rezeption“. Arnold Schönberg kommt zu Wort. Konservative Stimmen attestieren Krenek Kulturbolschewismus, der Wiener Julius Korngold mokiert sich über entseelte „physiologische Musik“ nach der Theorie des Neue-Musik-Paten Paul Bekker. Dieser zu Weimarer Zeiten führende Kritikerpapst prägt – Krenek unterstützend – Attribute wie „reflexionslose Naivität“. Intendant in Kassel und konform mit Kreneks Wiener und Berliner Lehrmeister Franz Schreker, engagiert er den jungen Krenek als Theaterassistenten. Der macht neben Kompositorischem mit Programmheftbeiträgen und Rundfunkvorträgen auf sich aufmerksam und wird im Folgekapitel unter dem Motto „E.K. und die Popularisierung des zeitgenössischen Theaters“ spruchreif mit Konzepten wie dem eines Theaters, dessen „mit phänomenologisch bezeichnete moralische Entschlackung (…) lesbar“ ist „als Korrektiv zur (post)wagnerianischen ‚deutschen, kultmäßigen Auffassung (…)‘“ (S. 244) nach Paul Bekker.
Überschrieben mit „1928: Jonny spielt Schubert auf“, schwenkt Kapitel 3 ins Jahr, in dem Krenek auf dem Höhepunkt seines Erfolgs mit der sogenannten „Jazzoper“ Jonny spielt auf nach Wien zurückkehrt. Mit Schubert-Vorträgen zum Gedenkjahr und der seinerzeit unaufgeführten Oper Kehraus um St. Stephan verfehlte er den erhofften Anschluss an Österreichs intellektuelle Elite. Kulturpolitisch opponierte er gegen den Zeitgeist, indem er offen eine massenmediale „Ubiquität des Geistigen“ und eine kommerzialisierte Kulturindustrie kritisierte. Politisch verstand er auch den neoromantisch von Schubert inspirierten Liederzyklus Reisebuch aus den österreichischen Alpen als einen „Appell an seine Landsleute, Österreichs Kleinheit nicht zu bejammern, als Absage an großdeutsche Visionen.“ (S. 55) Kreneks Kontroverse mit Theodor W. Adorno fokussiert Kapitel 4 unter der Frage „Fortschreitende Reaktion? Krenek im Anbruch und Scheinwerfer (1929-32)“. In leitender Funktion wollte der Philosoph die erstgenannte Hauszeitschrift der Wiener Universal Edition als Speerspitze der radikalen Avantgarde in Stellung bringen und sah Krenek, der auch im Nebeneinander von Idiomen der Gegenwart und Vergangenheit erneuerndes Potential fand, auf dem Weg in den Rückschritt.
Kapitel 5 beleuchtet „Jahre des Kulturpessimismus: Zwischen ‚Pathos des Angriffs‘ und ‚Pathos der Distanz‘“. Konkret dominiert hier Kreneks Mitarbeit bei der im linksdemokratischen Spektrum führenden Frankfurter Zeitung und seine Korrespondenz mit Feuilletonchef Friedrich T. Gubler, für den kein Geringerer als Siegfried Kracauer nach Aufbauarbeiten im Dienst eines „geheimen Marxismus“ das Feld hatte räumen müssen. Unterberger: „In Anbetracht der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen wollte Krenek Gubler auf einen ‚Existenzkampf‘ einschwören, den ‚Moraltrompeter‘ spielen, schreibend ‚ins Volle zielen‘, auch wenn er nur noch ‚ins Leere‘ treffen könne, als Einzelner unerhört bleibe“, und plädierte für ein journalistisches ‚Pathos des Angriffs‘ (…), wollte (…) vorsätzlich ‚unbequem‘ sein.“ (S. 471) Hatte Krenek mit einem politisch konservativen „Radikalismus der Mitte“ schon hier die Kracauer-Linie konterkariert, so kommt er gemäß Kapitelüberschrift 6 bei seinen publizistischen Arbeiten für österreichische Presseorgane 1932 bis 1938 „In der gefährlichen Mitte” an. Im Mittelpunkt stehen Literaturkritiken (wohlwollend besprochen und geistesverwandt: der Fortschrittsskeptiker Joseph Roth). Auch arbeitet er für die 23, ein musikalisches Pendant zu Kraus‘ Fackel, und für die Wiener Zeitung. Was ihm politisch für ein gegen Deutschland anschlussresistentes, umgekehrt geistig in Europa führendes Österreich vorschwebt, ist – gemäß einem weiteren Zeitschriftentitel – Der Christliche Ständestaat – musikalisch dokumentiert in der ersten reinen Zwölftonoper Karl V., ethisch verwirklicht in „Freiheit und Verantwortung“ als, so Krenek in der 23, „Kardinalachsen eines christlichen Zustandes, in dem das Abendland zu leben verpflichtet ist (…) .“ (S. 643). „Denn universalistisch und konservativ bezüglich der ‚Kontinuität des abendländischen Geistes‘, radikal und human, beides vermöge des Glaubens, (…) sollte (…) der idealtypische Österreicher sein.“ (S. 898) Unterberger: „Neue Musik in Krenek’scher Beleuchtung war somit auch das ‚Symbol einer neuen religiösen Haltung und theologischen Bindung‘ und – gleich ihren Urhebern – mitnichten automatisch ‚marxistisch‘ oder ‚‘links‘ eingestellt‘“ (…). (S. 643-644) „Kreneks zunehmend resigniertes Visavis zum austrofaschistischen Regime“ (S. 56) sei Signatur dieser Jahre.
Zwar setzt das Schlusskapitel „Brecht, Cocteau und die Welt dazwischen“ repräsentativ in die Überschrift. Um weiträumige Kunst- und Kulturprobleme wie Magischen Realismus, Surrealismus oder Episches Theater geht es jedoch auch hier direkt programmatisch und en detail. Primärgegenstand sind zudem Kreneks Reiseberichte aus Österreich, Schweiz, Frankreich, Spanien und dem baldigen Emigrationsziel USA. Besonders bildkräftig in einer Impression vom Besuch bei Darius Milhaud, den Krenek für den Anbruch zu porträtieren hatte, artikuliert sich „die um 1930 auch feuilletonistisch verhandelte Spaltung der ‚geistigen Welt‘“ in – Tonalität hin oder hier – das unbefangenere „Frankreich vs. Deutschland als ‚meridionaler Süden‘ vs. ‚Nordland‘ (…).“ (S. 56).
„Beschließendes“ gipfelt bei Unterberger im Fazit, dass der „große Unzeitgemäße“ „zwischenkriegszeitlich durchaus prominente resp. prominent besetzte, obschon aus heutiger Perspektive mitunter irritierende Positionen“ (S. 947) vertrat – letzteres brisant im Bekenntnis zu einer katholischen und österreichischen Avantgarde, das Unterberger beispielhaft sieht für die „Gefährlichkeit des Krenek’schen Radikalismus“ (S. 948). Gab es doch – so Unterberger mit Zitat aus Kreneks politischem Essay Zwischen „Blubo“ und „Asphalt“ – unter gleichgesinnten Vertretern seines österreichischen Gedankens auch solche, „die den Weg des bezüglich der ‚Tiefe und Universalität der Gedankenwelt, welche die geistige Basis des neuen Oesterreich bildet‘, (…) (zu) Hoffnungsvollen ins Exil mitbereitet haben.“ (S.949)
Zum Schluss braucht es keinen Hinweis, dass eine genreübergreifende Befassung mit Kreneks Œuvre nicht ohne Rekurs auf Unterberger auskommt. Auskommen wird sie hierbei auch nicht ohne terminologisches Vorwissen und eine geduldige wie nachschöpferische Konzentration auf einen anspruchsvollen, auf modernem kommunikationswissenschaftlichem Level formulierten Lesestoff. Modern, anspruchsvoll, ja hintergründig und süffisant gibt sich auch die persönliche Diktion an sich – gleichwohl eine Gaumenfreude für den feuilletonistisch und wissenschaftsliterarisch verwöhnten Gourmet, der dazu noch eine pikante Würzmischung aus Anglizismen und Austriazismen zu goutieren weiß.
Andreas Vollberg
Köln, 03.06.2020