Michael Fischer: Diskotheken im ländlichen Raum [Michael Stapper]

Michael Fischer: Diskotheken im ländlichen Raum. Populäre Orte des Vergnügens in Südwestdeutschland (1970-1995). – Münster: Waxmann, 2020. – 256 S. (Populäre Kultur und Musik ; 27)
ISBN 978-3-8309-4129-3 : € 34,90 (Softcover)

Bis aus der als discothèque bezeichneten Schallplattensammlung ein Veranstaltungsort wurde, dauerte es dem Handbuch der populären Musik (Wicke/Ziegenrücker 2007, S. 198) zufolge nur wenige Jahre. Bereits 1943 wurde im besetzten Paris in der Bar La Discothèque die damals verbotene Jazz-Musik auf Schellack-Scheiben gespielt. Doch mussten noch einige Jahrzehnte ins Land gehen, bevor aus diesen Tanzlokalen angesagte Clubs wie das Studio 54 in New York oder das Berliner Berghain entstanden. Spätestens seit den 1970er Jahren gehören Diskotheken zur Grundausstattung urbaner Lebensgestaltung. Dass sich dieses Freizeitvergnügen nicht auf das städtische Umfeld beschränkte, wird jede und jeder bestätigen können, der in den letzten fünfzig Jahren im ländlichen Raum aufgewachsen ist. Dabei waren Diskotheken auf dem Land immer schon mehr als bloße Unterhaltungsorte. Sie dienten der Kontaktanbahnung ebenso wie der Gruppenbildung; hier konnte man sich von den dörflichen und kleinstädtischen Gesellschaftskreisen abgrenzen. Andererseits waren Betreiber, Dienstleister und Publikum viel stärker in eben diesen, oftmals vereinsmäßig organisierten, Strukturen verhaftet. Nicht selten öffneten Diskotheken ihren Betrieb in traditionellen Gasthäusern unter teilweiser Beibehaltung des Mobiliars. Auch bei den Konfliktfeldern gab es Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Angeboten. Themen wie Ruhestörung (und der oftmals zugrundeliegende Herrschaftsanspruch einzelner gesellschaftlicher Gruppen) oder die Tragik von Autounfällen infolge des großflächigen Einzugsgebiets hatten auf dem Lande eine eigene Relevanz.
Räume, Programme, Konflikte – das breite Themenspektrum der Land-Diskotheken untersucht Michael Fischer in der vorliegenden Publikation. Der Autor tut dies auch in dem Wissen, dass die bisherige musik- und kulturwissenschaftliche Forschung den Blick allzu oft über das flache oder hügelige Land hinweg direkt in die Städte gerichtet hat. Dabei ist es nicht nur der urbane Raum, der für die Wissenschaft attraktiv zu sein scheint – gesellschaftliche und künstlerische Visionen wurden immer schon auch in Landkommunen oder Einsiedeleien entwickelt. Es ist der Fokus auf die besonders großen, neuen oder subversiven Themen. Ein als „Bauern-Disco“ bespöttelter Raum liegt in dieser Hinsicht ebenso weit entfernt von der eigenen anspruchsvollen Perspektive wie beispielsweise Schlager- und volkstümliche Musik oder Amateur- und Schülerbands abseits der Metropolen.
Michael Fischer, Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg und zuvor Leiter des Deutschen Volksliedarchivs (das in das genannte Zentrum integriert wurde), stößt mit großer Ernsthaftigkeit in diese Lücke. Zwar grenzt er den Ort ein, indem er sich einzelnen Regionen in Südwestdeutschland zuwendet, doch lassen sich die Ergebnisse wohl auch auf andere bundesdeutsche Landstriche übertragen. Der Autor gliedert seine Studie in zwei Bereiche. Der erste ist empirisch geprägt und in ihm wird das Thema ausgehend von einer allgemeinen, auch den Stand der wissenschaftlichen Forschung und die musikhistorisch wichtige „Disco-Welle“ berücksichtigenden Betrachtung, immer weiter fokussiert. Bei seiner Untersuchung nutzt Fischer das Konzept des „Populären Ortes“ des Kulturwissenschaftlers Stefan Krankenhagen, das über die Betrachtung als kulturelle Praxis hinausgeht. So wirft Fischer einen Blick auf Architektur und Inneneinrichtung der Lokale, auf mobile Diskotheken und technische Ausstattung, auf die Funktion der DJs sowie die Programmgestaltung und nicht zuletzt auf die zahlreichen Konfliktfelder. Im zweiten Großteil der Studie lässt Michael Fischer Zeitzeugen zu Wort kommen und bettet diese „Oral History“ in sehr gut aufbereitete und kommentierte Zusammenfassungen ein. Ein weiterer Blick fällt auf die Erinnerungskultur, die sich aktuell vielerorts in Social-Media-Gruppen oder Revivalpartys niederschlägt.
Michael Fischers Untersuchung zeichnet sich durch ihre wissenschaftliche Sorgfalt und durch ihre gut lesbare, aber nie anbiedernde Fachsprache aus. Dazu gehören ein kritischer Blick auf bisherige Forschungsergebnisse ebenso wie der Abdruck langer und klar gestalteter älterer Quellen, die die Schlussfolgerungen des Autors verstärken und illustrieren. Und es ist die Ernsthaftigkeit, die in Fischers Studie auffällt. So will der Autor mit dem klaren Blick auf die technische Einrichtung, der Innenarchitektur, dem gastronomischen Angebot und den vielen anderen Details klarmachen, dass sich auch außerhalb der urbanen Zentren ein kulturelles Angebot entwickelt hat, deren Erforschung sich lohnt. So handelt es sich bei den untersuchten Diskotheken gerade nicht um „technisch rückständige Zappelhallen“, die den „liebenswert verschrobenen Charme eines Selbstbau-Tanzschuppens mit Lichtorgel“ verströmten (zitiert nach Janke und Niehues: Discoführer Deutschland, 1999; S. 96). Ein technisches Stadt-Land-Gefälle mag deshalb oftmals in den ersten Jahren bestanden haben. Als immerwährendes und einziges Distinktionsmerkmal aber taugt diese Feststellung nicht. Vielmehr sind die Discos – mehr noch als in den größeren Städten – in das gesellschaftliche Leben integriert oder definieren sich gerade durch ihren Bezug zum regionalen Leben.
Betrachtet man die Studie als Anfangs- und nicht als Schlusspunkt, wie Fischer betont (S. 11), so bietet das Kapitel zur Programmgestaltung (S. 104ff) wohl das meiste Potential. Schlussendlich entschied auch die Musikauswahl mit darüber, ob die Jugendlichen den Weg in eine Disco überhaupt fanden. Welche Stilrichtungen wurden an welchen Abenden gespielt? Gab es ein Standardrepertoire und, wenn ja, wie aktuell war es? Wie war die Abfolge der Titel gestaltet? Die Quellenlage ist hier natürlich problematisch: Setlists wie bei Konzerten gibt es nicht; Mitschnitte auf Musikcassetten sind – wenn überhaupt auffindbar – nur Momentaufnahmen; die Abfolge eines Abends ist oftmals aus dem Augenblick heraus geboren; vorhandene Plattensammlungen haben wenig Aussagekraft über den Einsatz einzelner Tonträger. Trotz dieser Hindernisse ließen sich bei einer weitergehenden Forschung sicherlich noch wertvolle Erkenntnisse finden. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Dramaturgie eines Sets, auf die Fischer nur am Rande eingeht. Mit Verweis auf eine Untersuchung zum Musikerlebnis in Diskotheken von Holger Schwetter schreibt der Autor, dass „nicht nur die einzelnen Stücke (…) interessant seien, sondern auch die Reihenfolge der Titel bzw. die musikalische Dramaturgie“ (S. 107).
Als Beitrag zur Erforschung ländlicher Musikkultur und -praxis ist Michael Fischers Studie ein Gewinn. Nicht zuletzt deshalb, weil sie manche Leserin und manchen Leser dazu anregen wird, in den sozialen Medien nach Gruppen von Leuten zu suchen, mit denen man ein paar Schritte auf der Memory Lane in die eigene Vergangenheit zurück unternehmen kann.

Michael Stapper
München, 22.05.2020

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