Oliver Hilmes: Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe. ‑ München: Siedler, 2023. – 304 S.
ISBN 978-3-8275-0159-2 : € 24,00 (geb., auch als eBook)
Die stets adrette und sich „wirtschaftsliberal“ gebende Co-Vorsitzende einer gerade stark im Aufwind befindlichen reaktionären Partei, die sich frech mit dem ehrwürdigen Wort „Alternative“ schmückt (obwohl sie doch nur eine extreme Steigerung bekannter rechter Politik anderer Parteien vertritt), offenbarte neulich ihre wahre Gesinnung. Sie erklärte im ARD-Sommerinterview, sie könne die militärische Niederlage „ihres Landes“ am Ende des Zweiten Weltkriegs „nicht feiern“. Was im Umkehrschluss heißt, sie könnte das wohl, wenn Nazi-Deutschland den Krieg gegen die Demokratien Europas gewonnen hätte. So etwas darf man heutzutage ungeniert äußern, ohne dass es hinterher auch nur verbale Proteste gibt. Welche tödlichen Folgen es umgekehrt hatte, im Jahr 1943 mitten im „Dritten Reich“ auch nur Zweifel an der Siegesfähigkeit und Hoffen auf eine Niederlage der verbrecherischen imperialistischen Armee Nazi-Deutschlands zu äußern, berichtet Oliver Hilmes in dem vorliegenden Buch über das Schicksal des Pianisten Karlrobert Kreiten (ein Schüler von Claudio Arrau).
Die private Äußerung von Zweifeln daran, dass Nazideutschland den Krieg noch gewinnen könne und von Freude über die kommende Niederlage des von Geisteskranken und Verbrechern in den Untergang geführten eigenen Landes, musste der gerade am Anfang seiner Karriere stehende Pianist mit dem Leben bezahlen. Er wurde denunziert, verhaftet, eingesperrt, vor den „Volksgerichtshof“ gezerrt, der „Wehrkraftzersetzung“ angeklagt und vom Richter Freisler zum Tode verurteilt. Der Fall wurde 1988 in dem von Friedrich Lambart herausgegebenen, bei Hilmes sonderbarerweise völlig unerwähnt bleibenden Band „Tod eines Pianisten. Karlrobert Kreiten und der Fall Werner Höfer“ in der Berliner Edition Hentrich umfassend dokumentiert, mit Beiträgen von Peter Wapnewski, Harald Wieser, Götz Aly, Albrecht Dümling, Klaus Völker, zusammen mit der dort nachgedruckten Biografie Kreitens, die sein Vater Theo Kreiten 1947 veröffentlicht hatte („Wen die Götter lieben …“) und zwei Theaterstücken von Heinrich Riemenschneider („Der Fall Karlrobert K.“) und Hartmut Lange („Requiem für Karlrobert Kreiten“), die den Fall aufgriffen.
Hilmes gelingt es nun, aus dem ebenso erschütternden wie empörenden Vorgang ein Panorama des verkommenen geistig-moralischen Zustands der herrschenden Cliquen des „Dritten Reichs“ wie des Fanatismus und Opportunismus, aber auch von Resten menschlichen Anstands in Teilen des deutschen Volkes im Jahr 1943 zu ermitteln und auszubreiten. Er bedient sich dazu durchgehend der Montage-Technik und konfrontiert die unterschiedlichsten, aber unterschwellig oder kausal zusammenhängenden Ereignisse miteinander: historisch bekannte aus der großen Politik, überlieferte Erzählungen aus dem Widerstand und Szenen aus dem korrupten Leben der Angepassten, der Reichen und Mächtigen. Immer wieder werden kaleidoskopisch Bruchstücke aus verschiedenen dieser Sphären und zu verschiedenen Zeitpunkten der Kriegsperiode zwischen März (den verhängnisvollen Aussagen von Kreiten gegenüber einer Jugendfreundin seiner Mutter, bei der er ein paar Tage wohnen musste) und September 1943 (dem Tag der Vollstreckung des Todesurteils in Berlin-Plötzensee) collagiert, um die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse auf verschiedenen, teils gegenseitig sich unbekannten und sich auch widersprechenden Ebenen der Geschichte zu demonstrieren. Es ist erst das Puzzle, das es dem Leser schließlich ermöglicht, den Faden der Geschichte in ihrer ganzen Verworrenheit, Dramatik und Tragik zu finden. Es ist eigentlich eine ins historische Erzählen transformierte filmische Technik des plötzlichen Schnitts, die der Autor hier einsetzt, um die Aufmerksamkeit und Mitarbeit des Lesers hervorzulocken, zu denen jeder denkende und fühlende Mensch herzlich gerne bereit sein wird. Was zugleich eine dringende Empfehlung sein soll, das Buch zu erwerben und zu lesen.
Die Montage ist aus folgenden Elementen zusammengesetzt: den Gerichtsakten und Zeitungsberichten, den Briefen der Familie Kreiten (untereinander wie mit den beteiligten Juristen), den Tagebüchern von Joseph Goebbels (Dokumente eines brutalen Zynismus), Erich Kästner (Chronik der negativen Veränderungen im täglichen Leben), Victor Klemperer (Chronik der Verwahrlosung der Sprache in der Diktatur und der antijüdischen Totschlag-Stimmung in der Bevölkerung), Thomas Mann (klassifizierende und abwehrende Reaktion auf die Meldungen aus dem Reich), kompiliert mit kolportageartig erfundenen und ausformulierte Szenen aus dem Umfeld der Nazigrößen (hier ist der schmierige Göring natürlich ein gefundenes Fressen), sowie zu dem Komplott dreier dem Regime ergebener Damen, die mit ihrer Denunziation und Anzeige den grausamen Prozess hin zum Justizmord an Kreiten erst in Gang bringen. Das liest sich wie Szenen aus Klaus Manns Roman Mephisto, weil sie die Bigotterie, die Sentimentalitäten und die Verleugnung der Wirklichkeit in jenen Gesellschaftskreisen der Zeit lapidar und pointiert auf den Punkt bringen. Hilmes hat dadurch in literarischem Gewand viel für die Aufklärung über die Funktionsmechanismen in Diktaturen und die demoralisierende Wirkung ihrer Propaganda getan. Man hüte sich vor dem Glauben, dass so etwas nur in Diktaturen und nicht auch, wenn auch weniger mörderisch, im demokratischen Alltag der bürgerlichen Gesellschaft möglich wäre. Nicht umsonst hat Hilmes seinem Buch den ersten Satz aus Kafkas Romanfragment Der Prozess als Motto vorangestellt. Noch 1978 empörte sich der als liberal geltende Frühschopper Werner Höfer darüber, dass man ihn wegen der von ihm 1943 geleisteten journalistischen Rechtfertigung des Justizmords an Karlrobert Kreiten zur Rechenschaft ziehen wollte.
Alle Zitate in diesem Buch sind aus den Akten und Dokumenten nachgewiesen. Auch wenn sie im Fließtext vorne nicht markiert sind, hat Hilmes auch die nicht durch Zitate belegbaren Tatsachenbehauptungen in einem Anmerkungsanhang nachgewiesen, dort dafür aber nur Seite und Stichwort angegeben. Interessant, sich selber dabei zu ertappen, dass man manche erklärungsbedürftige Stelle vorne einfach überliest, ohne hinten nachzuschlagen, ob etwas und was genau der Autor dazu nachweisen kann. Dass Hilmes den Pianisten Karlrobert Kreiten, außer beim ersten Mal und am Schluss, wenn er seine Leiche benennen muss, im ganzen Buch nur beim Vornamen nennt, ist wohl ein literarischer Fehltritt, wirkt pseudointim, anbiedernd und distanzlos, was man sich als erzählender Historiker nicht erlauben sollte.
Peter Sühring
Bornheim, 29.12.2023