Adorno Kolisch. Briefwechsel 1926-1969 / Hrsg. von Claudia Maurer Zenck. – Berlin: Suhrkamp, 2023. – 859 S. (Theodor W. Adorno. Musikalische Briefwechsel ; II)
ISBN 978-3-518-58802-4 : € 99,99 (geb.)
Im Oktober 1942, viereinhalb Jahre nach der Emigration in die Vereinigten Staaten, klagt Theodor W. Adorno seinem Freund Rudolf Kolisch in einem Brief: „Sonst ist wenig zu berichten, wir sehen verhältnismäßig wenig Menschen und gehen ganz in der Arbeit auf. Doch kann ich nicht verschweigen, daß sich nachgerade eine Art Emigrations-Depression auf mich legt – das Scheinhafte, Insulare der äußeren Existenz prägt sich doch auch dem inneren Zustand und vielleicht sogar der Produktion auf, wobei die Tatsache, daß wir eine (schein?)-tote Sprache sprechen, sehr ins Gewicht fällt.“ (S. 149). Ganz anders klingt Kolischs Antwortbrief vom Februar 1943: „Dann aber geschah’s. In unserm Orchester ist eine Geigerin, die ungeheuer „attractive“ ist und der das ganze Orchester und die ganze Bühne nachstellt. Ich, ganz eingesponnen in meine Probleme und schon zwischen vier Frauen schwankend, war der einzige Mann, der kein[e] Notiz von ihr nahm. Was sie natürlich nicht zulassen konnte sondern eine Zusammenkunft herbeiführte, die überraschende Konsequenzen hatte“ (S. 153). Gelegentlich überbieten sich die beiden Freunde in ihren Berichten bezüglich Anzahl und Gewagtheit der amourösen Abenteuer. Adornos komplizierte Liebeseskapaden, widerstrebend toleriert von seiner Frau Gretel, deren Rolle als Sekretärin des Meisters dem heutigen Leser Stirnrunzeln bereitet, begleiten ihn bis an sein Lebensende und nehmen entsprechend Raum in der Korrespondenz ein, während für Kolisch anderes vorrangig wird: Das jahrelange Bestreben, Amerika zu verlassen und in Europa eine neue Existenz aufzubauen, auch um an eine erfolgreiche alte anzuknüpfen, zieht sich wie ein roter Faden durch Kolischs Briefe – sie dokumentieren ein unablässiges Scheitern. Adorno hingegen, der bereits 1949 vorübergehend und 1953 endgültig nach Deutschland zurückgekehrt war, hatte sich hier rasch etabliert. Bis in die letzten Briefe erweist sich das enge Band der Freundschaft darin, dass Adorno alles unternahm, um seinem Freund die Skrupel einer Rückkehr in ein Land zu nehmen, das ihn einst vertrieben hatte. Doch Kolisch plagt noch ein anderes schlechtes Gewissen, nämlich dass es ihm in den USA so gut gefalle und er doch kein Verfolgter im eigentlichen Sinne sei.
Im März 1925, kurz nach seiner Übersiedelung nach Wien, besucht der 21 Jahre alte Kompositionsstudent Theodor Wiesengrund – den Namen seiner Mutter, Adorno, benutzte er erst in späteren Jahren – Konzerte des „Wiener Streichquartetts“, dessen Primarius der sieben Jahre ältere Rudolf Kolisch ist. Außer neuester Musik steht auch Beethoven auf den Programmen. Hier lernt Adorno Arnold Schönberg kennen, der ein Jahr zuvor Kolischs Schwester Gertrud geheiratet hatte. Nach Wien war Adorno gegangen, weil eine Aufführung von Alban Bergs Wozzeck-Bruchstücken ihn zutiefst berührt hatte und er in der Stadt leben wollte, die diese Musik hervorgebracht hatte. Der Briefwechsel zwischen Kolisch und Adorno setzt im November 1926 ein, Thema der ersten Briefe ist die bevorstehende Uraufführung von Adornos Zwei Stücken für Streichquartett. Sympathien füreinander müssen unmittelbar da gewesen sein, denn bereits im zweiten Brief benutzt Kolisch die Anrede „Du“ und spricht Adorno mit seinem Spitznamen „Teddy“ an, ein Privileg, das sonst nur Siegfried Kracauer und René Leibowitz zuteilwurde, wie die Herausgeberin Claudia Maurer Zenck in ihrem Nachwort schreibt. Schon bald entwickelte sich aus der Begegnung eine tiefe Freundschaft, die zumindest für Adorno einzigartig war (zu Kolisch gibt es zu wenig Literatur, um das verlässlich einschätzen zu können).
Der Briefwechsel Adorno-Kolisch ist als Band 9 der Reihe Theodor W. Adorno. Briefe und Briefwechsel bei Suhrkamp erschienen, es ist nach den Bänden zu Berg und Krenek der dritte Band der musikalischen Briefwechsel, er enthält 286 Briefe mit größeren Lücken, etwa zwischen den Jahren 1929-1937, unterbrochen von nur einem Brief von 1934.
Der Gedankenaustausch kreist um Persönliches, enthält Organisatorisches wie Terminabsprachen und vermittelt Einblicke in die Gedankenwelt beider Schreibenden. Freilich ist der Umgang mit dem, was beide umtreibt, sehr unterschiedlich: Kolischs 1943 veröffentlichter Aufsatz „Tempo and Character“, in dem Kolisch versucht, Beethovens eigene Metronomangaben zu systematisieren und auf Beethovens gesamtes Werk anzuwenden, führt zu kritischen Reaktionen. Adorno bemängelt Kolischs seiner Meinung nach formalistischen und zu unflexiblen Ansatz, die Klassifikationen würden die musikalischen Charaktere letztlich nivellieren (S. 172, auch S. 578). Kolisch hingegen äußert sich nie konkret über die Schriften seines Freundes, es bleibt meistens bei unspezifischem Lob. Adorno mag Kolischs Reaktion kaum je abwarten und kann auch mal gereizt reagieren, wenn Kolisch zugibt, das neue Buch noch nicht gelesen zu haben (z.B. S. 222). Adorno kommt in seinen Briefen stets auf den Punkt, Belanglosigkeiten sucht man vergebens. Auch größere Verärgerung führt nie zu Ausfälligkeiten, nur einmal (S. 388) lässt er sich ungewohnt direkt über Josef Rufer aus, der zu der Zeit (1957) das Schönberg-Werkverzeichnis erstellte und kurz zuvor im Nachlass dessen drei kleine Stücke für Kammerorchester entdeckt hatte. Kolisch ist hier etwas deutlicher und hemmungsloser. Dass er seine Quartettkollegen mal als „Schweinehunde“ tituliert (S. 209), gelegentlich als „Gangster“ (S. 487), ist vermutlich auf interne Wortspiele zurückzuführen: Die Musiker des „Amadeus-Quartetts“ etwa nannten sich im englischen Sprachraum gerne die „Wolf-Gang“. Beklemmend wirken hingegen die Briefe, die den Verfall der manuellen Fertigkeiten des Geigers dokumentieren: Ende 1962 erwirkten die neuen jungen Quartettmitglieder einen Ausschluss Kolischs aus dem Quartett, weil er ihrer Meinung nach zu schlecht spiele (S. 488). Ende 1963 führt Kolisch zum Beweis, dass er noch Geige spielen kann, Beethovens Violinsonaten in Wisconsin auf (S. 502). (Die Mitschnitte aus jener Zeit, am deutlichsten wohl die Aufführung von Beethovens Violinkonzert mit René Leibowitz, die Modellcharakter haben sollte (S. 557), belegen schmerzlich, dass Kolisch den Zenit als Geiger längst überschritten hatte).
Schmerzlich insbesondere für Adorno sind die Erfahrungen bei den Darmstädter Ferienkursen. Geht er 1951 noch davon aus, Schönberg nun durchgesetzt zu haben (nach der fulminanten Aufführung des „Tanz um das goldene Kalb“ unter Hermann Scherchen), sieht er 1954 die Gefahr nicht auf Seiten der Reaktionären, sondern der radikalen Jungen, die nun Webern statt Schönberg als ihr Leitbild auserkoren hatten, den wiederum Adorno, Kolisch, Steuermann und andere als Komponisten nicht ernst nahmen und dessen Naziphrasen sie befremdet hatte. Während Kolisch und Steuermann noch 1961 von der – ihrer Meinung nach – „Stockhausen-Idolatrie“ abgestoßen sind, fühlt sich Adorno geschmeichelt, dass dieser ihn weiterhin an die Ferienkurse binden will (S. 408 und 410).
Die Editionsrichtlinien der Suhrkamp-Reihe bewähren sich auch in diesem sorgfältig lektorierten Band, das Ziel ist stets gute Lesbarkeit. Die Textgestalt ist durchgehend frei von Herausgeberzusätzen, außer wenn die Textverständlichkeit beeinträchtigt ist (z.B. S. 147). Dass es sich bei „Gigi“ um Luigi Nono handelt, erfährt der Leser in den Anmerkungen, die auf jeden der Briefe folgen (hier S. 367). Typografische Eigenheiten wurden stillschweigend angepasst.
Der knapp 150seitige Anhang enthält 22 Dokumente aus den Jahren 1928 bis 1969, darunter Transkriptionen von Rundfunksendungen oder Reproduktionen von Typoskripten. Besonders interessant ist ein Gespräch Adornos und Kolischs über musikalischen Sinn, das 1954 im Hessischen Rundfunk aufgezeichnet wurde.
Abgerundet wird der sehr spannend zu lesende und ergiebige Band durch ein umfangreiches und ungemein detailliertes Nachwort der Herausgeberin Claudia Maurer Zenck, sowie durch Werk-, Schriften- und Personenregister.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 04.03.2024