Alte Musik heute. Geschichte und Perspektiven der Historischen Aufführungspraxis / Hrsg. von Richard Lorber [Peter Sühring]

Alte Musik heute. Geschichte und Perspektiven der Historischen Aufführungspraxis. Ein Handbuch / Hrsg. von Richard Lorber. – Kassel: Bärenreiter, 2023. – 414 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-7618-2520-4 : € 39,99 (geb., auch als eBook)

In periodischen Abständen scheinen solche Bücher der Selbstvergewisserung einer Bewegung oder Szene nötig zu sein, in denen sie sich selbst befragt, wer man (geworden) ist, wo man steht und wie man sich weiterentwickeln will. Besonders in der Alte-Musik-Bewegung ist das vorliegende Buch nicht das erste seiner Art. Hier scheint das Bedürfnis nach Bilanz und Zukunftsaussicht besonders verbreitet, weil heutzutage zwar nicht mehr der Druck besteht, sich rechtfertigen zu müssen, dafür aber die Gefahr wächst, in selbst geschaffenen Konventionen zu erstarren, in Etabliertheit zu degenerieren und in Saturiertheit entweder zu erlahmen oder sich in Exaltationen zu flüchten. Obwohl hier im Untertitel des Buches noch von „Historischer Aufführungspraxis“ die Rede ist, ist dieser Titel für eine einst gegen den normativen Musikbetrieb widerständige Musikpraxis längst suspekt geworden, weicht man lieber in Formulierungen wie „historisch informiert“ und ähnliche Verkünstelungen aus, hat sich aus dem Widerstand heraus zu einer arrivierten, musikmarktmächtigen Instanz von bedeutender kreativwirtschaftlicher Potenz gesteigert. Auch die Restauration entlässt ihre Kinder.

Restauriert werden sollte einst aus einer kritischen Gegenbewegung gegen die alleinherrschende klassisch-romantische oder modernisierende Aufführungspraxis „vorklassischer“ Musik heraus eine adäquatere, für ältere Musik geeignete Art der Darbietung, die sich der Instrumente und Spielweisen, für die diese Musik komponiert war, vergewisserte. Historisieren, sich der Geschichtlichkeit der Musik erinnern, quellenkundig machen, nicht modernisieren, adaptiert an aktuelle Standards bearbeiten, nicht alles über den Löffel des herrschenden Zeitgeistes balbieren, das waren Devisen am Anfang der Bewegung. Auch im vorliegenden Buch mehren sich die Anzeichen dafür, dass man diese gewagte oppositionelle Anverwandlung an frühere Musizierweisen gerne wieder aufgeben möchte, um nicht noch tiefer in die entdeckte Vielfalt und den Variantenreichtum älterer Musik vorstoßen und eintauchen zu müssen, um stattdessen vor neuen Strömungen eines herrschenden Zeitgeistes opportunistisch einzuknicken und sich dessen Codes und Anforderungen anzupassen, um im Rennen um Förderung und Publikumsgunst nicht auf der Strecke zu bleiben.

Der Musikredakteur und Herausgeber Richard Lorber will in seinem einleitenden Beitrag einen aktuellen „Zeitstil“ in der momentanen historisierenden Musikpraxis festgestellt haben, den er meint, mit den Merkmalen Virtuosität und Extravaganz charakterisieren zu können. Aber auch schon die frühen, nicht mehr dilettantischen (aus den 1930er und 40er Jahren stammenden, gegen die sich der Spott des immer wieder gerne, aber unpassend zitierten Adorno einst wendete), sondern schon professionell historisierenden Aufführungen und Einspielungen aus den 1970er und -80er Jahren (die Adorno nicht mehr hörte und bei denen ihm sein Spott wohl im Halse stecken geblieben wäre) waren virtuos und extravagant ‑ sonst hätten das Ensemble London Baroque die Gamben-Fantasien von Purcell, Harnoncourt mit seinem Concentus musicus die Kantaten Bachs, Gustav Leonhardt die Goldberg-Variationen oder die Geschwister Kuijken Telemann und Rameau gar nicht so technisch perfekt und für die Mitwelt überraschend und befremdlich spielen können, wie sie es getan haben. Eher setzte sich Adorno dann dem Spott der auf diese Weise historisierend Musizierenden aus, wenn er etwa in seinem Rundfunk-Feature über „Schöne Stellen“ Beispiele mit einem muffigen, düster dröhnenden Konzertflügel, auf dem eine Bach-Fuge zelebriert wurde, hören ließ und damit das zeitlos Wahre in der Tonkunst demonstrieren wollte.

Die eigentliche künstlerische Qualität, der immerwährende, zu allen Zeiten des Musikmachens gültige Maßstab: dass eine Interpretation auf ihre je eigene Weise durchdacht und beseelt sein sollte ‑ auf welchen Instrumenten und in welchem Stil auch immer ‑ bleibt in den aktuellen, von Lorber resümierten Debatten und Kontroversen fast unausgesprochen. Denn es wäre doch sicherlich albern, leugnen zu wollen, dass es auch unter der Herrschaft standardisiert modernisierter Spielweisen musikalisch stimmige und faszinierende Aufführungen geben konnte und könnte (man denke nur an Glenn Goulds Einspielung englischer Virginalmusik auf einem Konzertflügel, an David und Igor Oistrach, wenn sie Bachs Doppelkonzert spielten oder an André Navarra, eine Gambensonate von Caix d’Herveloix auf dem Violoncello spielend). Ebenso garantiert weder ein passend gewähltes, historisch korrektes Instrumentarium, noch die Einhaltung erlernter Regeln der Spielmanieren eine gelungene, geist- und seelenvolle Wiedergabe älterer Musik, auch wenn sie sich ihr von den technischen Voraussetzungen her schon weiter annähert.

Und auch die Möglichkeiten und Standards in der historischen Echtzeit der Kompositionen und ihrer zeitgenössischen Aufführungen waren nicht einheitlich oder normiert. Nicht einmal Bach selbst hätte seine eigenen Konzerte und Kantaten über die Zeitläufte seines Lebens in Weimar, Köthen oder Leipzig jeweils gleichartig aufgeführt, sondern sich den gegebenen Umständen und Verhältnissen angepasst und sich und seinen mit ihm arbeitende Musikern Freiheiten und veränderte Varianten der Darbietung zugestanden. Ganz zu schweigen davon, was passiert wäre, wenn sein Freund Telemann beispielsweise die Köthener Concerts avec plusieurs instruments (denen Spitta den irreführenden Titel „Brandenburgische Konzerte“ verpasste) in Hamburg aufgeführt hätte ‑ wären sie gedruckt oder ihm in einer Abschrift überlassen worden. Bach selbst fehlte in Köthen gerade eine Kapelle, mit der er sie hätte aufführen können, leider verschwanden sie im Tresor eines brandenburgischen Markgrafen, dem sie Bach verlegenheitshalber, in trügerischer Hoffnung auf eine dortige Aufführung gewidmet hatte. Geschmack, Spielweisen, Stimmtonhöhe, Instrumentenbauarten waren schon damals regional verschieden, zwar untereinander vergleichbar, aber nicht übereinstimmend. Wie sollte es da heutzutage für historisierende Musiker eine einzige „authentische“, klanglich „originale“ Darbietungsform geben können, wie noch Harnoncourt sie in den 1980er Jahren für seine Aufführungen in Anspruch nahm?

Was Lorber meint, ist aber durchaus zu konstatieren und etwas negativer zu beurteilen, als er es tut, nämlich, dass Manierismus, Willkür und Subjektivismus im Aufführungsstil grassieren, Momente einer spätkulturellen übersättigten Verfeinerung, die sich nicht nur an manierierter älterer Musik, also an geeigneten Objekten wie z.B. den Rosenkranz-Sonaten Bibers entfaltet, sondern sich auch an dafür ungeeigneten Objekten wie den Partiten Bachs austobt. Diese schrillen Auswüchse einer selbstherrlichen, überwältigen wollenden Publikumsbespaßung ist eine Spätblüte einer snobistisch gewordenen Musikszene, die zwar den Titel „Alte Musik“ aus opportunistischen Gründen nicht nur nicht ablegen mag, sondern zu usurpieren trachtet, sich aber von ihren eigenen Wurzeln längst losgesagt hat. In diese Kategorie fallen auch die von Elina Albach vorgestellten „neuen Konzertformate“ mit veränderten äußerlichen, meist visuell orientierten Aufführungsbedingungen. Nicht nur Furtwänglers bräsige Darbietung Händelscher Concerti grossi mit einem modernen Sinfonieorchester, sondern auch eine Bachsche Johannespassion mit einem Tenor, der alle Rezitative, Arien und Chöre singt und von einem Schlagzeuger und einer Cembalistin begleitet wird, mögen jeweils im ehemaligen bürgerlichen Konzertbetrieb wie in einer heutigen experimentellen Musikszene, die sich älterer Musikvorlagen meint bedienen zu müssen (anstatt für diese Besetzung geeignete neue Musik zu komponieren), ihren Ort und ihre Legitimität haben, nur mit „Alter Musik“, der mit großem A, also mit den Kriterien der Alte-Musik-Bewegung mit ihren bewusst historisierenden, d.h. nach für ältere Musik geeigneten Praktiken suchenden Ambitionen, haben beide Konzepte, das bildungsbürgerlich gemütliche und das vermeintlich avantgardistische, absolut nichts zu tun.

In der Hauptsache ist das Handbuch mit Beiträgen seriöser, wohlbekannter musikpraktischer und musikhistorisch arbeitender Autor(inn)en gefüllt, die in ihrem Problembewusstsein und ihren Reflexionen geradezu eine Mauer gegen besagte modernistische und liquidatorische Tendenzen, die in die Szene einzudringen beginnen, bilden könnten. Das Buch, das unverkennbar die Handschrift trägt und aus dem Erfahrungsschatz schöpft, welche die Alte-Musik-Szene in Köln prägen (vier Kölner Institutionen waren an seiner Entstehung beteiligt: das Forum Alte Musik, das Zentrum für Alte Musik, die Alte Musik-Abteilung der Musikhochschule, die Alte Musik-Redaktion von WDR3), enthält eine Unmenge Analysen, Betrachtungen  und Pointen, die jeder der möglichst vielen Leser für sich entdecken sollte. Hier können nur die tiefgestaffelt gegliederten inhaltlichen Schwerpunkte beschrieben und wenige der schönsten Ansichten hervorgehoben werden, um das Buch dringend zu empfehlen für jene Leser, die Anspruch und Wirklichkeit der Bewegung, ihre Tugenden und Gefahren in einer aktuellen, aber historisch grundierten Momentaufnahme erfassen und künftige Konzerte der Szene besser einschätzen lernen wollen.

Die Geschichte der historisierenden Aufführungspraxis wird überblicksartig und routiniert von Dieter Gutknecht behandelt, das Forum Alte Musik Köln als Spiegelbild einer lebendigen Szene von Bernd Heyder geschildert, die Interpretationsgeschichte und -stile am Beispiel der „Brandenburgischen Konzerte“ von Martin Elste untersucht (wobei fraglich ist, ob im dritten der Konzerte wirklich die nach den leidigen beiden Übergangsakkorden die wichtigste Frage ist oder nicht eher die nach einer anderen als der eingebürgerten Stimmenkombination, etwa der in chori spezzati). Im umfangreichen 2. Kapitel resümiert Sabine Rademacher die Aspekte der wiedergeborenen Barockoper, Arnold Jacobshagen widmet sich speziell dem Phänomen des Countertenors, Martin Erhardt macht Fragen der historischen Interpretationskunst aktuell und in den beiden interessantesten Beiträgen werden einerseits von Norbert Rodenkirchen der erforderliche kreative Spielraum im Umgang mit mittelalterlichen Musikfragmenten, andererseits von Meinolf Brüser das musikalische Geschehen (vielmehr das kommunikative Entstehen von Musik) während des polyphonen Singens einzelner Stimmen ohne Partitur, wie in der Renaissance üblich, erörtert. Glücklicherweise fehlt nicht ein detaillierter organologischer Teil über Tasten- Blas- und Streichinstrumente. Editionspraktische Fragen werden von Hendrik Schulze und die musikalische Kunstausübung als zugleich forschende Tätigkeit von Evelyn Buyken behandelt. Mélanie Froehly erinnert daran und gibt Einblicke darin, was es heißt, dass weiterhin alle Ensembles, die sich der historisierenden Darbietung älterer Musik widmen, d.h. freie Ensembles, in ihren Finanzierungs-Möglichkeiten ungesichert sind.

In Verfolgung einer inzwischen gut eingebürgerten und beliebten, weil aufschlussreichen musikjournalistischen Praxis, Künstler-Interviews zu veranstalten, werden solche hier in geballter Form mit der crème de la crème der Interpreten (Jordi Saval, René Jacobs, Philippe Herreweghe, Benjamin Bagby, Reinhard Goebel, der eine Lanze für das Repertoire der galanten Musik bricht, Peter Phillips, Christophe Rousset, Andrea Macron, Dorothee Oberlinger, Katharina Bäuml mit ihrer Sympathie für Cross-over-Projekte, Dorothee Mields, Chouchane Siranossian und Valer Sabadus) präsentiert. Angefangen von einem nun schon fast historischen Interview, das der Herausgeber noch 2009 mit Gustav Leonhardt führen konnte (und in dem der durchaus selbstkritische grandseigneurale Herr zum Besten gibt, Harnoncourt und er hätten bei der Ersteinspielung der Bach-Kantaten „scheußlich gespielt“) geht der Reigen der Auskünfte zu Person und Musikverständnis weiter, wobei geschicktes Fragen vonseiten der WDR-Journalisten ebenso anregende wie nachdenkliche Antworten hervorruft.

Am Rande fällt auf, dass der Herausgeber vergessen hat, einer nicht ganz unbedeutenden Instanz im Rahmen der Alten Musik-Bewegung eine Darstellung zu widmen, nämlich der eigenen Profession, dem druck- oder radioaffinen Musikjournalismus, gegen dessen anfängliche und zum Teil bis heute anhaltende Häme die Szene sich zu behaupten hatte oder der positiv für die Begründung, Erklärung und Vermittlung ihrer Kriterien und Erfahrungen bis hin zur Weckung von Zustimmung und Enthusiasmus für ihre Sache viel getan hat.

Peter Sühring
Bornheim, 11.03.2024

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