Music and Exile. From 1933 to the Present Day / Hrsg. von Malcolm Miller u. Jutta Raab Hansen. – Leiden. Brill, 2023. – 310 S.: Farb-, s/w-Fotos und Abb. (The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies ; 22)
ISBN 978-90-04-54065-1 : € 100,58 (Pb.; auch als eBook)
Zur Rezensentenpflicht gehört ein eröffnender Blick auf die Hintergründe, auf Institution und Organisation, die diesen gewichtigen Sammelband zum Musiker-Exil ermöglicht haben. Erschienen ist die Publikation im Periodikum des Research Centre for German and Austrian Exile Studies, angesiedelt am Institute for Languages, Cultures and Societies, of the School of Advanced Studies der Londoner Universität. In diesem 1995 gegründeten Zentrum hat die Forschung zum deutschsprachigen Exil in Großbritannien ihre denkbar beste Verortung finden können, was eine rege Forschungs- und Publikationstätigkeit belegt (s. hier). Weit gespannt auch das Forschungsinteresse. Man schaut auf “important groups of emigrés who arrived in the 19th-century and earlier” und man schaut auf die “German-speaking emigrés who found refuge in Britain”. Mit Letzteren gemeint sind die als Folge des nationalsozialistischen Vertreibungsdrucks entstandenen Fluchtbewegungen der 1930-er und 1940-er Jahre, der Schwerpunkt am Research Centre, was aus den Titeln der seit 1999 aufgelegten Jahrbücher unzweifelhaft hervorgeht.
Gemeinsam mit der Freelancerin Jutta Raab Hansen hat der Associate Fellow at The Open University, der Pianist, Musikkritiker und Musikpublizist Malcolm Miller jetzt den jüngsten Band zum Thema herausgegeben. Mit Brill, dem renommierten niederländischen Wissenschaftsverlag ist ein verlässlicher Partner mit am Start. Ein Umstand, der nicht zuletzt auch die niederländische Exilforschung tangiert, im Ergebnis das Themenspektrum noch einmal geweitet, tendenziell freilich auch unübersichtlich gemacht hat. Wie, nach welcher Systematik ordnen? Nach den im Band thematisierten Zielländern Australien, China, Großbritannien, Niederlande, Vereinigte Staaten? Wie die Rückwirkungen auf die Herkunftsländer einordnen? Wohin gehören die verwickelten Biographien der Musiker, der Komponisten? – Im Endeffekt hat sich das Herausgeberduo für einen Mix aus geographisch, institutionell, individuell entschieden, wodurch, im Unterschied zu den Vorgängerpublikationen mit ihren ausdifferenzierten Untertiteln, die Unterzeile für Vol. 22 etwas schmallippig-nichtssagend ausgefallen ist, bei näherer Betrachtung die Perspektiven der im Band vertretenen Aufsätze auch nicht ganz korrekt abbildet: From 1933 to the Present Day.
Bereits die einleitenden Beiträge von Michael Haas und Primavera Driessen Gruber, die beide um das österreichische Musiker-Exil in Polen, in der Tschechoslowakei, in den Niederlanden kreisen, greifen weit vor “1933″ zurück. Solcherart Öffnung eines Tiefenhorizonts ist insbesondere für Haas, der nach “Musical Identity” fragt, geradezu konstitutiv. Für den Einfluss der bis 1918 bestehenden Monarchie Österreich-Ungarn auf das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Künstlereliten findet Haas instruktive Beispiele. Da ist Karol Rathaus. Der 1895 in Tarnopol, heute West-Ukraine, geborene Komponist polnisch-jüdischer Abstammung, deutsch-österreichischer Nationalität, mit Studien- und Berufsaufenthalten in Berlin, mit Exil in New York, habe sich, so Haas, zeitlebens als “Austrian” verstanden. Ähnlich verhalte es sich bei den in Prag beheimateten Komponisten Victor Ullmann, Ernst Krenek, Hans Winterberg. Ja, Haas, möchte sogar zwischen einer Herkunft aus Deutsch-Österreich und einer solchen aus Groß-Österreich unterschieden wissen. Eine nicht weiter ausgewiesene Terminologie, die es erlaubt, abhanden gekommene Größe kompensatorisch im Erinnerungsraum zu bewahren.
Auch für Primavera Driessen Gruber, die in ihrem Beitrag erstmals überhaupt das Austrian Music Exile in the Netherlands thematisiert, ist der Rückgriff vor “1933″ essentiell. Obwohl gemeinsame Grenzen fehlen, ließe sich die Attraktivität der Niederlande für Musiker aus Alt-Österreich klar belegen. Erinnert wird an die Einladung Gustav Mahlers durch den Chefdirigenten des Concertgebouw Orkest Willem Mengelberg, an die in Wien respektive in Ungarn geborenen Geigenvirtuosen Oskar Back und Carl Flesch, die an belgischen und holländischen Konservatorien unterrichteten. Im Zentrum des Interesses aber steht das deprimierende Schicksal der österreichischen Juden unter der deutschen Besetzung des Landes.
Als niederländische Muttersprachlerin und als Leiterin des vormalig in Wien lokalisierten Exil-Archivs Orpheus Trust und damit Kennerin des österreichischen Musikexils nach 1938 ist Driessen Gruber wie prädestiniert für eine solche Aufgabe. Es ist ein Kampf mit der Überfülle des Materials. Am Ende stellt die Autorin wehmütig fest, dass aufgrund des “limited space” vieles nur angetippt, manches ausgelassen, wieder anderes im Dunkeln bleiben musste. Was dabei aber trotzdem ans Licht gekommen ist, ist elektrisierend: Von 140.000 Juden, die 1940, zum Zeitpunkt des Überfalls der Deutschen Wehrmacht, in den Niederlanden lebten, wurden 107.000 deportiert. Bei nur 5.200 Rückkehrern sei dies, gemessen am Anteil der jüdischen Bevölkerung, die höchste Zahl der von der SS und ihren niederländischen Hilfsorganisationen deportierten und ermordeten Juden in Europa. Ein Schock, den diese Studie uns gleich zu Anfang zumutet.
Hellsichtig übersetzt Driessen Gruber dies in ein Problembewusstein. Das “österreichische Musik-Exil in den Niederlanden” sei eine “ambiguos story”, eine “mehrdeutige Geschichte”, begleitet von “naivety, indifference, collaboration and betrayal”. Selbst im Fall des 1933 in Amsterdam noch begeistert empfangenen Bruno Walter zeigten sich die Behörden als “not too cooperative”. Weiter erinnert Driessen Gruber neben dem Schicksal von Alma Rosé an das eher unbekannter Musiker, an die Lyrikerin, Sängerin und Komponistin Mimie Grossberg, den Kapellmeister Paul Pella, den Theaterdirektor Lothar Wallerstein, den Komponisten, Musikologen und Lehrer Hugo Kauder u.a. Auch die Zeit nach der Befreiung sieht Driessen Gruber kritisch, setzt hinter den Neustart ein deutliches Fragezeichen: Liberation – A new start? Bei über 100.000 deportierten Juden ist diese Reserve nur nachvollziehbar. Dazu die mit ihrem eigenen Kriegstrauma beschäftigten Niederländer. Deren nur allzu verständliche Abneigung, Ablehnung von und gegenüber allem Deutschen hatte freilich bittere Folgen für die deutschsprechenden Flüchtlinge. Sie entglitten der Aufmerksamkeit. Auch das “remained untold”, blieb „bisher nicht erzählt” wie die ganze Geschichte des Austrian Music Exile in the Netherlands vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein bitteres Kapitel, von dem man nur hoffen kann, dass die Autorin es einmal in umfassender Gestalt wird ausarbeiten und präsentieren können.
Aus der Fülle der vierzehn ins Yearbook aufgenommenen Aufsätze und den dadurch möglich gewordenen neuen Perspektiven auf ein altes, lange Zeit vernachlässigtes Thema der Zeitgeschichte, dem Exil der Künste als Folge des nationalsozialistischen Vertreibungsdrucks, seien hier nur mehr zwei weitere Studien von erhöhtem Aufmerksamkeits- und Dringlichkeitsbedarf herausgegriffen.
Da ist der Beitrag von Florian Scheding über die Free German League of Culture in Great Britain, also über den am 1. März 1939 gegründeten Freien Deutschen Kulturbund in Großbritannien. Auch diese story durch und durch ambigous. Nur mit Kopfschütteln reagiert man auf das Verhalten des in der League prominent agierenden Eisler-Schülers Ernst-Hermann Meyer. Jemand, der in der Shoah fast seine gesamte Familie verloren hatte, wollte von seinem eigenen Judentum nichts wissen, ließ es ganz in seinem kommunistischen Antifaschismus aufgehen. Mit der Folge, dass sich die Mehrheit der Mitglieder von ihm, dem zeitweiligen Präsidenten, dem führenden Kopf der Musik-Abteilung des Bundes, distanzierten. “Many Jewish members of the League felt that they were increasingly excluded from the debate and considered Jewish instead of German.” Ein Ausschluss, der sich, wie der Autor zeigt, in der Exilgeschichtsschreibung der DDR fortsetzte und zu eklatanten Verzerrungen führte, insofern die übergroße Mehrheit der rassisch Verfolgten hinter den politisch Verfolgten zurückstehen mussten. Kein Wunder, dass eine die Widersprüche aushaltende und ausleuchtende Biographie von Ernst-Hermann Meyer bis heute ebenfalls Desiderat ist.
Was überhaupt ein wiederkehrender Befund der hier vorgestellten Beiträge ist. Was zuletzt auch gilt für den Fingerzeig, den Herausgeber Malcolm Miller auf den emigré composer and pianist Franz Reizenstein und dessen England-Exil wirft. Bisher völlig unbekannt ist der Umstand, dass Reizenstein 1952 im Auftrag der BBC mit Anna Kraus die erste radio opera des Senders geschrieben habe. Miller erzählt die Geschichte dieser, wie er sie nennt “Holocaust Opera”, und schließt mit der Feststellung that the opera deserves a long-overdue revival. Wie so etwas geklungen hat? – Anlässlich der öffentlichen, auch ins Internet übertragenen Vorstellung des Jahrbuchs hat Miller in seiner eigenen Präsentation immerhin einen Mini-Ausschnitt dieser Anna Kraus bekannt gemacht. Der Schnipsel steht für zwei Minuten frei bei 1:02:24 ff. Wer das hört, möchte mehr hören.
Düsseldorf, 07.05.2024
Georg Beck