Musikästhetik in Europa und Nordamerika / Hrsg. von Felix Wörner und Melanie Wald-Fuhrmann – Kassel: Bärenreiter, 2022. – 962 S. (Lexikon Schriften über Musik 2)
ISBN 978-3-7618-2063-6 : € 129,99 (geb.; auch als eBook)
Kurz und vorweg sei’s gesagt: Ein Meilenstein in der Lexikografie der Musikliteratur – trotz weniger und kleiner Einwände. Lexikon-Artikel über fachliches Schrifttum sind (wie auch derartige Rezensionen) zu dreierlei gut: entweder das Lesen der vorgestellten und kritisch behandelten Traktate, Essays, Bücher oder Aufsätze überflüssig zu machen, weil deren Quintessenz in den Artikeln substantiell dargestellt wird, oder vom Lesen abzuraten wegen der vielen in dem Objekt enthaltenen Fehler und Irrtümer oder das Lesen dringend zu empfehlen, weil ‑ mehr als es in lexikalischer (oder rezensierender) Zusammenfassung und Kritik möglich ist ‑ alles im gesamten Formulierungs- und Begründungszusammenhang des Originals studiert werden sollte. Letztere Empfehlung gilt für das hier rezensierte Lexikon, das in seinen Artikeln wiederum jeweils eine der drei genannten Aufgabenstellungen erfüllt, obwohl man diesen Band nicht zur Hand nehmen kann, um ihn von A bis Z zu studieren. Dieses Werk gehört in jede seriöse Musikbibliothek, um dort, wie jedes andere gute Lexikon auch, als zuverlässiges und anregendes Nachschlagewerk benutzt zu werden.
Jeder Musik eignet, ob sie will oder nicht, für den Menschen ein ästhetisches, als romantisch zu bezeichnendes Surplus, ein alles andere Hörbare übersteigender ästhetischer Gebrauchswert, der das Alltagsleben überschreitet und romantisiert. Die als westlich zu bezeichnende, aus dem globalen Norden stammende Musikästhetik ist der Versuch, dieser subjektiven und sozialen Funktion der Musik auf die Schliche zu kommen, sie in ihrer Entstehung und ihrer Wirkung zu erklären. Von Platons Idee, Musik habe Leidenschaften zum Klingen zu bringen bis zum heute modischen Gebot, in Musik einzutauchen, reicht historisch das mit Musik verbundene ideelle und emotionale Spektrum. Marcel Proust hat in seiner kleinen Schrift Lob der schlechten Musik (aus der frühen Sammlung Tage und Freuden ‑ sie kommt in diesem Lexikon nicht vor) auf die lebensrettende und lebenserhaltende Funktion oder Stimmung, die jegliche Musik, selbst die banale, verbreitet und von jeglichem menschlichen Wesen in einem bestimmten Stück Musik (und sei es ein dummer Schlager) gesucht und gefunden wird, hingewiesen. Dass Theodor W. Adorno ‑ im Gegensatz zu Proust ‑ jede Musik unterhalb des Niveaus von Bachs Kunst der Fuge oder den Abstraktionen in Beethovens späten Streichquartetten als minderwertig und einer ästhetischen Erfahrung für unwürdig betrachtete, zeigt die asozialen Fallstricke einer rationalistischen, das Irrationale in der Musik negierenden, vernunft-fixierten elitären Ästhetik.
Erstmals, aber endgültig scheint der Abschied von einer eurozentrischen Sicht auf die Musikästhetik genommen, oder sie wird vielmehr in ihrem Geltungsanspruch auf die europäische Musik beschränkt. Jene in Europa und im kolonisierten Nordamerika entwickelte wird nicht mehr für „universal“ gehalten, und mit Spannung wartet man auf den 3. Band dieses Lexikons, in dem erstmalig außereuropäische und vorkolonialistische Musiktheorien aus Jahrtausenden behandelt werden sollen.
Nicht nur wird man das Buch nicht von vorn bis hinten durchlesen können, wollen oder sollen, auch ist es im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, auch nur zu den gewichtigsten, durch Umfang und Gehalt hervorragenden Artikeln detailliert bewertend Stellung zu nehmen. Der größte hier nutzbare Vorteil bei einer kursorischen oder interessegeleiteten Lektüre wäre gerade der, vor allem wenig oder gar nicht Bekanntes, das hier aber wichtig genommen und vorgestellt wird, kennenzulernen. Alle ungezählten Artikel, dem Autoren-Alphabet folgend, von 195 Verfasser(inne)n folgen einem gleich verbindlichen Schema der Darstellung. Die eingangs mitgeteilten bibliografischen Daten beziehen sich auf die Lebensdaten des Autors (ganz selten einer Autorin – das Feld der Musikästhetik scheint sehr zu ihrem Nachteil eine fast rein männliche Domäne zu sein), den vollen und originalsprachlichen Titel des Werkes, Erscheinungsort und -jahr, Textart, Umfang und Sprache sowie die Quelle und die Drucke der besprochenen Schrift, inkl. ihrer Übersetzungen in andere Sprachen und der Digitalisate. Es folgt einleitend ein Vorspann, der das behandelte Werk historisch in allgemeiner Form einordnet, um dann in einem „Zum Inhalt“ betitelten Abschnitt den Gang der Argumentation, die Thesen des Autors darzustellen, die in einem weiteren Abschnitt „Kommentar“ einer mehr oder weniger kritischen Würdigung unterzogen werden (Richard Wagners wirre Schriften werden zwar nicht kritiklos referiert, aber insgesamt etwas zu ernst genommen). Beschlossen werden die Artikel mit Hinweisen auf die Sekundärliteratur zu Autor und Schrift. Diese Gliederung ist sinnvoll, nachvollziehbar, bewährt sich bei jedem der Artikel.
Was die verschiedenen Völker Europas und Nordamerikas betrifft, so erscheint die Auswahl ausgeglichen, obwohl der Hang der Deutschen zum Ästhetisieren, besonders in der spekulativen Spielart, unterm Strich rein quantitativ zu einem realen Übergewicht von Artikeln zu deutschsprachigen Werken geführt haben mag. Qualitativ aber sind alle vier Himmelsrichtungen des Kontinents gebührend vertreten, und was Europa früher noch mehr als heute in seinen geistigen Bezügen und Durchkreuzungen einmal war, noch ist oder wieder werden könnte, wird auch durch die intertextuellen Bezüge innerhalb der Artikel deutlich gemacht. Die Spannweite des besprochenen Materials reicht von eigentlich fachphilosophischen Abhandlungen von der Antike bis zur Gegenwart, über ästhetische Reflexionen von Komponisten und praktischen Musikern (im Fall Mozarts und Mendelssohns der Briefe), sowie von Musik-Historikern und -kritikern bis zu musikbezogenen ästhetischen Betrachtungen von Dichtern und Schriftstellern (hier gelten die im Deutschen üblichen geschlechtsneutralen, also Vertreter beider Geschlechter meinenden Berufsbezeichnungen). Diese unorthodoxe und nicht fachbornierte Auswahl hat den großen Vorteil, dass nicht nur schulmäßig abgesicherte, systemorientierte Arbeiten, sondern auch freigeistige Reflexionen, die zwischen Wissenschaft und Kunst oszillieren, zur Sprache kommen und auch ihre musikaffinen Erkenntnisse in die Waagschale geworfen werden.
Dass Adorno seine oben erwähnte, einseitig rationalistische Haltung nicht durchhalten konnte, geht aus den etwas übergewichtigen, insgesamt acht, auf 30 Seiten ausgedruckten, sich inhaltlich auch überschneidenden Artikeln hervor, die etwas von dem schillernden, widersprüchlichen Charakter dieses Denkers und Polemikers durchscheinen lassen. Übertrieben und ihrer realen Bedeutung unangemessen scheint, dass außer innerhalb der Besprechung der von Adorno unter dem Titel Dissonanzen veröffentlichten Aufsatz-Sammlung Adornos Schrift über den „Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens“ noch einmal separat behandelt und des Weiteren im Rahmen einer Sammelbesprechung aller Musikalischen Schriften des Autors wiederholt auftaucht. Interessant allerdings ist (und dies könnte die redaktionelle Absicht dieser Mehrfach-Besprechung sein), wie unterschiedlich die verschiedenen Autoren diese Schrift beurteilen: während Werner Keil sie im Anschluss an die ihr schon in den 1930er Jahren auf den Fersen folgenden Kritik von Hans Mayer in ihrer hochtrabenden Arroganz und ihrem absolutistischen Wahrheitsanspruch kritisch referiert, wird sie von Gabriele Geml in acht Kolumnen als eine Schrift behandelt, die „seit dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung an Aktualität mehr gewonnen als verloren hat“ (S. 31).
Dass auch geistige Produkte wie musikalische Kunstwerke, vor allem aber solche aus dem Bereich der industriell erzeugten Unterhaltungsmusik in der bürgerlich-kapitalistischen Kultur den Charakter von Waren annehmen können, ist nicht besonders originell gedacht und hat mit speziellen Ansichten von Karl Marx nicht viel zu tun, vor allem ignoriert diese pauschale These, dass selbst in dieser durchkommerzialisierten Sphäre die Entfaltung individuellen Künstlertums weiterhin möglich ist und in erstaunlicher und hörbarer Weise immer wieder durchbricht. Was den Fetischcharakter der Musik oder einzelner musikalischer Warenerzeugnisse betrifft, so ist diese Rede eine fragwürdige Übertragung von Phänomenen der von Marx kritisch untersuchten materiellen Produktion, bzw. der Zirkulationssphäre auf geistige und künstlerische Produktionen, zumal Marx’ Rede vom Fetischcharakter der materiellen Waren selbst schon eine Übertragung von geistigen, sprich religiösen Phänomenen auf die Sphäre der materiellen Produktion war. Dass Marx selbst nicht als Ästhetiker, sondern nur im Rahmen dieser fragwürdigen Adaptation auftaucht, hat durchaus seine Richtigkeit. Dass Adornos Vorlesungen zur Einleitung in die Musiksoziologie aufgenommen wurden, erscheint übertrieben, obwohl auch sie selbstverständlich einige musikästhetische Aspekte enthalten und entfalten – das gleiche würde aber für ähnliche Schriften von Christian Kaden, Kurt Blaukopf und Alfons Silbermann gelten, die hier abwesend sind. Dafür fehlt eine musikästhetisch entscheidende Schrift Adornos, in der er die Chance hatte, seine Thesen analytisch zu erhärten, was ihm nur teilweise gelang, weil sich auch hier sein metaphysisches „Ideal von Musik“ vordrängt, „als Bild des Endes von Vergängnis“, als „Vorwegnahme eines Zustands, in dem Entfremdung getilgt wäre“: Der getreue Korrepetitor. Die Aufnahme des ähnlich gerichteten Reproduktionsbuchs aus Adornos Nachlass ist dafür nur ein schwacher Ersatz. Keil erwähnt auch die empörend geringen musikhistorischen Kenntnisse Adornos. Passend dazu fiel dem Rezensenten ein Zitat von Robert Eitner, des Gründers der ersten Gesellschaft für Musikforschung (1868‑1904), von 1890 in die Hände: „So lange die Ästhetik die Geschichte der Musik negiert, so lange bleibt sie eitel Spiegelfechterei“.
Andere große Materialisten (vor allem die französischen vor Marx, also Michel-Paul-Guy de Chabanon und Jean-François Marmontel, leider nicht auch André Morellet, der ihnen vorausging und meinte, dass man beim Ausdruck in der Musik nur von ungefähren Analogien sprechen könne) und große Dialektiker (vor allem die deutschen wie Hegel und Schelling) sind entsprechend aufgenommen und gewürdigt. Das überrascht und erfreut im Falle der Franzosen, wundert im Falle der Deutschen nicht und entspricht ihrer allgemein anerkannten, im gesamteuropäischen Rahmen vielleicht etwas übertriebenen Bedeutung. Die Wirkung der radikalen Thesen der aufgeklärten Franzosen auf das Hören im Rahmen der Anthropologie von Claude Levi-Strauss wird nicht vermerkt.
Angesichts der vielen positiven Überraschungen, was die Behandlung auch ganz abgelegener, in Deutschland bisher kaum diskutierter Autoren und Strömungen betrifft, erscheint es fast ungehörig, von Versäumnissen zu sprechen. Die folgenden Hinweise sind auch nicht als substantielle Kritik an der Konzeption des Bandes zu verstehen, sondern sollen nur darauf aufmerksam machen, dass das weite Feld der Musikästhetik noch reichhaltiger ist als es dieses Lexikon eh schon abbildet.
Von den etwas größeren Unterlassungen könnte genannt sein die Tatsache, dass nicht vorgestellt wird Claudio Monteverdis Verteidigung seiner die Musikgeschichte revolutionierenden seconda prattica gegen Giovanni Maria Artusis Polemik, die hier zurecht apologetisch referiert wird, weil Artusi in seiner Schrift sehr viel mehr formulierte als nur eine Kritik an der damaligen Moderne. Monteverdi eröffnete eine neue Epoche der Musikgeschichte mit der Begründung, beim Komponieren gehe es, wie schon Plato es wollte, um das zum Erklingen-Bringen von Leidenschaften ‑ allerdings dadurch, dass man für sie „Entsprechungen in der Musik“ sucht und findet. Monteverdi hatte damit wohlweislich etwas völlig anderes formuliert als die heute üblich gewordene Rede vom Ausdrücken von Gefühlen durch Musik.
Vermisst werden vom Rezensenten auch (und dieses Vermissen signalisiert nicht mehr als persönliche Vorlieben und will keine objektive Wichtigkeit für das Vermisste in Anspruch nehmen) der romantische Physiker und Naturphilosoph Johann Wilhelm Ritter, der im Anhang zu seinen Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers, ausgehend von dem elektromagnetischen Phänomen der Klangfiguren zu einer Theorie der Tonwelt kam, die Musik als Sprache der Natur beschrieb, in der sich aber die gesamte Menschengeschichte musikalisch aufführen ließe. Ebenso wie der Physiker und Naturmystiker Gustav Theodor Fechner, der in einer weiteren Vorschule der Ästhetik nicht nur allgemein eine „Ästhetik von unten“ propagierte, sondern speziell für die Musik die Wirksamkeit eines „direkten Faktors“ in Anspruch nahm, im Gegensatz zu Literatur und Bildender Kunst, die auf assoziative Faktoren für ihr Verständnis angewiesen wären – womit Fechner wohl die Gemeinplätze umkehrt. Die Rolle von Georg Gottfried Gervinus scheint mit einer kurzen Erwähnung im Artikel über Hausegger nicht hinreichend gewürdigt, Klopstocks Hinweise auf den Sprachrhythmus und ihre Wirkung auf die Deklamation bei Gluck scheinen vernachlässigt. Von Goethe werden eher ephemere Äußerungen und Schriften mit Bezug zur Musik verstreut eingebracht, nicht aber ein Haupteintrag für eine seiner zentralen Musik-Schriften, die in den Anmerkungen über Personen und Gegenstände zu seiner Übersetzung von Diderots Rameaus Neffe steckt und betitelt ist mit: Musik. Das ist besonders schade, weil schon im ersten Band des Lexikons auf Goethes „Tonlehre“ ganz vergessen wurde. Schön und gut ist, dass Vladimir Jankélévitch, schade, dass kein Alain vorkommt.
Auffällig ist auch, dass bei der genannten Sekundärliteratur zu den besprochenen Werken kaum ein Hinweis hinter die 1970er Jahre zurückgeht. Das mag aus Platzgründen nachvollziehbar sein, führt aber unweigerlich, wie schon im ersten Band, dazu, dass die Pionierleistungen besonders im 19. Jahrhundert für die Erstedition und -kommentierung musikästhetischer Schriften der Antike und des Mittelalters ‑ außer sie wären im Fließtext der Artikel erwähnt ‑ ungenannt bleiben.
Bei den in dankenswerter Weise aufgenommenen Artikeln über die Gedanken von Dichtern und Schriftstellern über Musik fehlen beispielsweise Musikfeuilletons von Carl Spitteler, Robert Walser und Michel Butor. Und was Wolfgang Hildesheimer für ein erweitertes und verbessertes Verständnis der Musikästhetik im 18. Jahrhunderts anhand seiner Bücher über Mozart und Bach getan hat, sollte wenigstens beiläufig nicht verschwiegen werden. Auch Ingeborg Bachmann hätte mit ihren Musik-Essays mehr verdient als ein Zitat in dem einzigen Henze-Artikel dieses Lexikons.
Aber das sind marginale Einwände, hauptsächlich gilt, dass dieses Lexikon eine Fülle neuen Materials liefert, das schrittweise in etwas allgemeiner verbreitetes Wissen verwandelt werden sollte und zu weiteren Fragen, zum Weiterdenken anstoßen kann.
Peter Sühring
Bornheim, 15.10.2023
Diese Rezension erschien zuerst in Forum Musikkbibliothek 2023/3; sie wurde für diese Veröffentlichung durchgesehen und leicht überarbeitet.