Marie-Luise Scherer: Der Akkordeonspieler / Mit einem Nachwort von Petra Morsbach. – 1. Aufl. dieser Ausgabe. – Berlin: Friedenauer Presse, 2023. – 177 S. (Wolffs Broschur)
ISBN 978-3-7518-8005-3 : € 20,00 (brosch.)
Marie-Luise Scherer, geboren 1938 in Saarbrücken, schrieb mehr als zwanzig Jahre lang literarische Reportagen für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Ludwig-Börne-Preis, den Italo-Svevo-Preis und den Heinrich-Mann-Preis. Sie starb im Dezember 2022 in Damnatz an der Elbe, wo sie bis zu ihrem Tod gelebt hat. Ihre Geschichte Der Akkordeonspieler erschien erstmals 2004 im gleichnamigen Sammelband der bibliophilen Reihe Die Andere Bibliothek, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. 2017 wurde sie erstmals als eigenständiges Buch veröffentlicht, im September 2023 erschien die vorliegende Neuausgabe.
Wer kennt sie nicht, die Akkordeonspieler aus dem Osten Europas, die in Deutschlands Fußgängerzonen und U-Bahnstationen mit ihren musikalischen Darbietungen mehr oder weniger erfolgreich an die Spendierfreudigkeit der Passanten appellieren. Marie-Luise Scherer hat einem dieser im Alltag oft übersehenen Menschen einen Namen und eine Geschichte gegeben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verliert der Musiker Wladimir Alexandrowitsch Kolenko aus dem kaukasischen Kurort Jessentuki seine Arbeit, die darin bestand, in Heilbädern aufzuspielen und Sanatoriumschöre zu leiten. Um seine Familie weiterhin ernähren zu können, macht er sich mit seinem roten Akkordeon der Marke Barkola auf den Weg, um in Berlin sein Glück als Straßenmusikant zu versuchen.
Das Spielen auf der Straße ist dort streng bürokratisch geregelt. Mittwochs steht Kolenko gegen 6.30 Uhr auf dem Zwischendeck des U-Bahnhofes Kleiststraße für die Musikgenehmigung an, die ihm für die kommenden Wochentage die erlaubten Standorte zuweist. „Die Mehrzahl der Wartenden bilden die Gitarristen. Ihnen folgen die Akkordeonisten und Geiger und diesen wiederum die Xylophon- und Keyboardspieler. Die absolute Minderheit teilt sich eine Harfenistin mit einem Vertreter fernöstlicher Streichmusik, in dessen Futteral ein Brett mit einer einzigen aufgespannten Saite steckt. Nicht erlaubte Instrumente sind Trompeten, Hörner sowie Klangverstärker“ (S. 20). Kolenko wird zum Routinier eines bizarren Lebenskampfes, der sich zwischen Berliner U-Bahn-Schächten und dürftigen Unterkünften entfaltet. Seine Zimmerwirtinnen sind einsame Witwen und geschiedene Frauen, die sich von dem höflichen Russen manchmal mehr erhoffen als nur einen zahlungsfähigen Untermieter. Dann kommt es vor, dass er zu nachtschlafender Zeit fluchtartig das Haus verlässt. Regelmäßig kehrt er in überfüllten Nachtzügen und mit aus allen Nähten platzenden Koffern heim, nur um bald darauf in der Botschaft in Moskau für die nächste Aufenthaltsgenehmigung anzustehen. Als ihm plötzlich und unerwartet zweimal hintereinander das Visum verwehrt wird, sieht er keinen anderen Ausweg, als sich von seiner Galitschka scheiden zu lassen und zum Schein deren frisch verwitwete Freundin zu heiraten. Mit dem neuen Namen Karpow erhält er ein neues Visum.
Auf seinem Überlebensweg begegnet Kolenko/Karpow den unterschiedlichsten Personen, die alle auf ihre Weise ihren Platz im Leben suchen. Die Schauplätze wechseln wie die Landschaften vor den Fenstern des fahrenden Zuges. Eben noch im stillen, schwermütigen Tolstoi-Haus in Moskau mit seinen altersfröstelnden Wächterinnen findet sich der Leser kurz darauf in Berlin auf einem opulenten Bat-Mitzwa-Fest einer russisch-jüdischen Großfamilie wieder. Der Prunk und Pomp in Rosa, der Lieblingsfarbe der Gefeierten, übersteigt in seiner Protzigkeit jegliche Vorstellungskraft. Die Armenierin aus Baku, die auf dem Fest den Schönheitsdienst an den reichen Damen versieht, hat einst dem Akkordeonspieler, damals noch Kolenko, im Zug durch Polen eine entsetzliche Tragödie anvertraut. Heute ist ihr Hauptproblem das Muttersöhnchen von Ehemann, wie sie Karpow bei einem Kännchen Tee im Friedhofscafé klagen wird. Nach wechselnden Quartieren und musikalischen Episoden auf den Straßen und in den Nachtclubs Berlins begleiten wir den Protagonisten wiederum als Heimkehrer auf einer der endlosen Zugfahrten durch Russland und die Ukraine, die neue Bekanntschaften und neue Abenteuer mit sich bringt.
Der Leser wird immer tiefer hineingezogen in eine ganz eigene Welt, in der die Figuren nie wirklich ankommen, in der sie nirgendwo wirklich zu Hause sind, geschweige denn dazugehören. Die Autorin enthält sich jeglicher Wertung: Keine der Figuren wird demontiert, jede behält ihre Würde und wird im Gegenteil oft liebe- und humorvoll gezeichnet. Wie jene jakutische Verwandte, die Karpow in Begleitung eines Freundes bei seinem Zwischenstopp in Moskau besucht. „Ein vergessenes Mädchen, das die Männer nicht lockte, wahrscheinlich auch nie hatte locken wollen. […] Ihre Kleidung diente nur dazu, den Körper zu bedecken. Sie wirkte insgesamt ergraut und eingemottet.“ Weder der Besuch ihres Verwandten, noch die Familienfotos und Neuigkeiten aus der Heimat scheinen sie irgendwie zu berühren. Erst als sie das Interesse des Begleiters an ihrer Weltkarte mit Flugrouten und Brut- und Überwinterungsplätzen von Zugvögeln bemerkt, ist sie plötzlich voller Leuchtkraft, röten sich die Wangen, scheint sie wie wachgeküsst. „Nach einer Stunde ließ man sie glücklich zurück.“ (S. 135/136).
Es ist die atmosphärisch dichte und wunderbar schnörkellose Sprache, die den Sog des Buches ausmachen und die die im Kopf entstehenden Bilder wie zu einem Film zusammenfügt. Kein Wort erscheint überflüssig. Die sprachliche Präzision lässt die Figuren und Schicksale vor dem inneren Auge buchstäblich lebendig werden, die wechselnden Schauplätze und Landschaften fast körperlich erleben. Susanne Kippenberger hat es in ihrer Rezension der Erstausgabe auf den Punkt gebracht: ein „Epos im Kurzformat, in einem Satz steckt eine ganze Welt“ (Der Tagesspiegel, 20.07.2017).
Als Hörbuch in der ARD-Audiothek [Stand 12/2023]
Verena Funtenberger
Essen, 30.11.2023