Rongfen Wang: Steinway / Mit Hilfe der Verfasserin aus dem Chinesischen übersetzt von Lao Men. 1. Aufl. – Berlin: Matthes & Seitz, 2022. - 490 S.
ISBN 978-3-7518-0091-4 : € 28,00 (geb.)
Rongfen Wang (*1945) studierte Germanistik in Bejing und weil sie den Terror der Chinesischen Kulturrevolution in einem Brief als solchen bezeichnet hatte, verbrachte sie die Jahre 1966 bis 1979 in einem Straflager, wo sie u. a. schwersten Folterungen ausgesetzt war. Nach ihrer Rehabilitation 1980 arbeitete sie an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, emigrierte aber anlässlich eines Kongresses 1989 nach Deutschland. Sie promovierte in Soziologie und arbeitete bis zur Pensionierung als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Statistischen Bundesamt. Es liegen zahlreiche Publikationen von ihr vor, dies ist ihr erster Roman. Der Übersetzer Lao Men, Pseudonym des deutschen Sinologen und Juristen Frank Münzel, verdient besondere Erwähnung, die sprachliche Vielfalt geht mit Sicherheit auf seine Expertise zurück.
Der in Titel und Umschlagbild mit dem Steinway-Flügel angedeutete Musikbezug ist nur eine Art roter Faden in einer nichts weniger als erzählerisch hochkomplexen Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert mit unverkennbar autobiografischem Hintergrund. Das erschließt sich bereits im Prolog des Romans, die anspruchsvolle Lektüre setzt die Bereitschaft voraus, sich auf den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext dieser Prosa einzulassen, den Roman also nicht im herkömmlichen Sinn zu konsumieren.
Die Rahmenhandlung spielt in der Zeit vor und nach der Chinesischen Kulturrevolution im Umfeld der „Viererbande“ und deren Machtkämpfe innerhalb des linken Flügels der Chinesischen KP. Ausführende der „4-fachen Säuberungen“ waren die Roten Garden mit brutalen Auswirkungen auf die vorrevolutionäre Gesellschaft. Die bis heute in China offiziell totgeschwiegenen Verbrechen kosteten mehr als 50 Millionen Menschen das Leben, verursacht durch Hunger, staatlich angeordneten Terror, behördliche Willkür und Deportation. Die statistikversierte Großmutter des Ich-Erzählers Shi Sun korrigiert bereits im Vorspann die in China vorherrschenden Narrative deutlich nach oben, indem sie methodisch und wissenschaftlich argumentiert.
Erzählt wird die Geschichte der musikalisch talentierten Geschwister Shi Sun und Shi Zhu, die in den 1980er Jahren in bescheidenen Verhältnissen aufwachsen und das Klavierspiel erlernen sollen. Der Kauf eines geeigneten Instruments erweist sich als Herausforderung, doch es gelingt der zwar geizigen, aber gesellschaftlich bessergestellten Großmutter ein gebrauchtes Klavier zu beschaffen. Als Witwe eines zu Unrecht inhaftierten und später rehabilitierten Mannes war sie durch finanzielle Entschädigung wohlhabend geworden, eine zweite Ehe mit einem angesehen Militärarzt vermehrte das Vermögen. Schlau, geschickt und bestens vernetzt gelangt sie an einen gebrauchten Steinway, der noch vor der Revolution vom Kaiserhaus bestellt, aber dann nicht mehr ausgeliefert wird und in andere Hände gelangt, ein Instrument von höchster Qualität und mit kostbaren Intarsien versehen. Die Großmutter begleitet die Geschwister zum Klavierunterricht, wobei immer eines der beiden Kinder unterrichtet wird und das andere mit der Großmutter draußen wartet. Während die hochtalentierte Shi Zhu rasch Fortschritte macht und der Abstand zum Bruder immer größer wird, entwickelt sich dieser vom Zuhörer zum Chronisten der Geschichten, die er im Vorzimmer zu hören bekommt. Hier beginnt ein neuer Erzählstrang, den Wang geschickt mit den bereits eingeführten Haupt- und Nebensträngen verknüpft: ähnliche Schicksale, vergleichbares Leid während des Grauens der Kulturrevolution und der jahrzehntelangen Herrschaft der KP werden hier kunstvoll in einer thematischen Engführung verschränkt. Die Mutter der Klavierlehrerin Cheng Pinzhi erzählt ihre eigene Familiengeschichte, deren Verästelungen diejenigen der Shis berühren und wiederspiegeln. Cheng Pinzhis Vater wurde mit dem Ausbruch der Revolution inhaftiert, ihr Mann, ihr kleiner Sohn und ihre Schwiegermutter auf grausamste Weise umgebracht. Um wenigstens ihren Vater zu retten setzt sie alle Hebel in Bewegung, auch um den Preis, die Geliebte Maos zu werden, der auf die begabte und attraktive Musikerin ein Auge geworfen hat. Doch er entledigt sich ihrer rasch und lässt sie ins Gefängnis werfen, wo sie in einer überfüllten Zelle ganz unterschiedlichen Frauen begegnet. Mit jeder neuen Leidensgenossin und deren Schicksal verdichtet sich gleichzeitig die Geschichte Chinas und behält doch ihr individuelles Gesicht. Die Schreckensherrschaft Maos endet erst 1976 mit dessen Tod, die Überlebenden des Gefängnisses kommen frei. Die einsetzenden postmaoistischen Lockerungen und die beginnende wirtschaftliche Liberalisierung entpuppen sich als Trugbild, die zaghafte Demokratisierung findet 1989 mit dem Tian’anmen-Massaker ihr Ende. Viele Jahre später treffen in den Vereinigten Staaten Shi Sun und die Tochter Cheng Pinzhis zufällig aufeinander, wobei dem Steinway als Begleitinstrument bei einem gemeinsam angestimmten Lied aus der Zeit der Vorrevolution eine letzte emotionale Rolle zukommt.
Der Roman wirkt auf mich wie ein pointilistisches Gemälde, dessen einzelne Bildpunkte sich in ihrer Wirkung erst entfalten, wenn die Perspektive verändert wird: steht man unmittelbar davor, irritieren die einzelnen Raster den Betrachter, der erst durch entsprechenden Abstand den Zusammenhang erkennt. Insofern ist der kunstvoll verwobene Teppich unzähliger Geschichten und persönlicher Schicksale auf den ersten Blick verwirrend, als Gesamtheit ist allerdings ein komplexes Panorama einer Epoche chinesischer Geschichte entstanden, die Ihresgleichen sucht. Leicht irritierend wirken in ihrer Vielzahl die in unseren Ohren eher fremd klingenden Eigennamen, weshalb man dem Verlag geraten hätte, dem Buch eine Liste der wichtigsten Protagonisten voranzustellen. Für westliche Leser verstörend ist auch die ungeschönte Beschreibung brutalster Gewalt, die lakonische Schilderung ausgesuchter Quälereien, die vom Baby bis zum Greis unterschiedslos alle trifft und dabei in eigenartigem Kontrast zu malerisch-wohlklingenden Bezeichnungen wie „Reisblütendorf“, „Magnolienhalle“, „Pfirsichgarten“ oder auch „Platz des Himmlischen Friedens“ steht.
Die alles überstrahlende Botschaft ist aber die der Solidarität, diejenige der gemeinsamen Verantwortung füreinander ungeachtet der Herkunft, der Wille, gelebten Zusammenhalt der menschlichen Verrohung entgegenzusetzen. Den kulturellen Kanon erweitert der Roman allemal und es ist zu wünschen, dass diese Botschaften Wirkung entfalten.
Claudia Niebel
Stuttgart, 01.12.2023