Lorenz Luyken: Musikgeschichte „Romantik“. – Kassel [u.a.]: Bärenreiter, 2023. – 259 S.: s/w-Abb., Notenbsp. (Bärenreiter Studienbücher Musik ; 22)
ISBN 978-3-7618-2459-7 : € 27,50 (Broschur; auch als eBook)
In die praxisbewährte Reihe seiner Studienbücher Musik implementiert Bärenreiter zur Zeit eine Untergruppe, deren Einzeltitel zunächst ein triviales Schema befürchten lassen: eine Musikgeschichte in fünf Bänden, herkömmlich betitelt zunächst nach Mittelalter und Renaissance, dann jeweils Barock, Klassik und Romantik, schließlich Moderne und Postmoderne. Längst aber wissen Verlag und Leser, dass stereotype Grundgerüste, Faktenreferate und reine Musikzentrierung in Zeiten der interdisziplinären Horizonterweiterung selbst eines populärwissenschaftlichen Schmökers unwürdig sind. Und so gilt dies erst recht für Begleitbücher der musikwissenschaftlichen (Hoch)schullehre oder des anspruchsvollen, fachlich vertieften Selbststudiums. Mögen gewisse konventionelle Schablonen vor Fragwürdigkeit glänzen, sind sie beim orientierenden Reden und Schreiben über Musik nach wie vor nicht tabu. In ähnlichem Sinne beruft sich auch Lorenz Luyken auf ein Diktum Silke Leopolds, wenn er gerade in der vieldeutig-schillernden Aura der Romantik deren enormes historiographisches und kulturgeschichtliches Potential verankert sieht. Romantik – wie kein zweites gelte sie Musikliebhabern aller Genres als Etikett einer emotionalen Muttersprache.
Luyken, neben lehrenden, musikpraktischen und publizistischen Funktionen hauptamtlich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, hatte zunächst die Idee zum Fünfbänder sowie zum Grundkonzept. Dass seine persönliche Wahl dann auf die Romantik fiel, verwundert kaum und weckt mit Blick auf seine einschlägigen Forschungserträge die Erwartung gewaltiger Expertise und schriftstellerischer Bravour. Und was laut Unterstatement „in dem beschränkten Rahmen, den eine Einführung zulässt, nach der Substanz und den Grenzen des Epochenbegriffs“ (S. 10) fragt, stößt werkanalytisch und exegetisch-vergleichend in ungeahnte Tiefen vor – repräsentativ zwar, doch dabei eingebettet ins synchrone sowie vor- und nachzeitige Umfeld.
Das leidige Problem einer Epochenzäsur problematisiert Luyken spannend anhand einer ambivalenten Situation 1823, als von Webers Euryanthe auf Wagners Musikdrama vorausblickte und Schuberts melodisch kreisende „himmlische Längen“ das zielgerichtete Prozessdenken Beethovenscher Klassik infrage stellten, beide indes organisch die Klassik fortschrieben. Eigentlich romantisch wird es erst ab Berlioz, Mendelssohn, Chopin, Schumann, Liszt und Wagner. Zuvor hatte die frühromantische Musikästhetik ihr Denken aus der Musik der Klassiker entwickelt. E. T.A. Hoffmann legte Beethovens Sinfonik romantisch aus. Personell und geographisch zuordnen lässt sich der Beginn musikalischer Romantik nicht zuletzt durch ein faktisches Kriterium: So ging die „Entdeckung des Romantischen (…) nicht auf Musiker, sondern auf Poeten zurück, und hier ganz maßgeblich auf den um 1800 aufblühenden Kreis der Jenaer Frühromantiker“ (S. 20) um die Gebrüder Schlegel sowie Tieck, Novalis, Schleiermacher, Fichte, Schelling. Exemplarisch analysiertes Musikbeispiel: Mendelssohns Lieder ohne Worte, die ein textdominiertes Genre unkonventionell rein instrumental artikulieren und den semantisch unbestimmten Ausdruck von Instrumentalmusik poetisch auffassen, indem sie durch gezielte Kunstgriffe die Imagination des Hörers anregen: sei es durch konnotierende Überschriften, sei es durch das Spiel mit geläufigen Formschemata. Kurz gefasst gibt sich eine Skizze zur Begriffsgenese der Romantik mit Verweis auf den terminologischen Ursprung aus erzählerischer Literatur sowie zum zeitgeschichtlich-politischen Kontext: romantische Sehnsucht als Reaktion „auf das Unbehagen an den herrschenden politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Zuständen an der Wende (…) zum 19. Jahrhundert“ (S. 23) nach Französischer und industrieller Revolution.
Zentrale Kategorie ist das Poetische: Distanzierung vom Prosaischen, aber dialektisch mit diesem verbunden (z.B. romantische Ironie bei Schumann), in sich selbst dagegen von einer „alle Bestimmtheit übersteigenden Ausdruckskraft“ (S. 28). Symptomatisch auch: die Tendenz zum Zyklischen und Organisch-Entwickelnden neben einem Hang zu Entgrenzung und Extremen. Mit Tiefgang, bei aller Komprimierung differenziert, erschließt Luyken ein Netzwerk aus Philosophie (Postulat der Kunstautonomie), bildender Kunst, Rezeption (neu: konzentriertes, synthetisches „Poetisches Hören“), Emanzipation der Instrumentalmusik vom Funktionalen zu Metaphysischem, Mentalitätsgeschichte (Weltflucht und einsames Künstlertum), Historismus (Aneignung der Vergangenheit in produktiver Intention), Musik im Kontext der Nationenbildung (infolge der nachnapoleonischen Krise) und Gesellschafts- wie Institutionsgeschichte (Etablierung und aktive Musikausübung des Bürgertums). Und eine Demarkationslinie zum Fortschrittsparadigma der Moderne destilliert Luyken aus Max Regers Romantischer Suite.
„Ein goldenes Zeitalter der Musik?“ – so Überschrift und Kernfrage der Einleitung. Zur Konkretisierung begeben sich die Großkapitel 2 bis 4 auf einen Höhenflug durch den hochkomplexen Kosmos der Musikromantik mit Zwischenstopp bei markanten Fixsternen. Prinzipiell gehen quellenbasierte, auf führende Sekundärliteratur rekurrierende und bei allem intellektuellem Anspruch anschaulich formulierte Fokussierungen musikalischer Phänomene über in detailliert analytische Schlaglichter bzw. – in Kapitel 4 – separate Werkporträts. Deren Verständnis nun setzt fortgeschrittene Vorkenntnisse in Notationskunde, Tonsatz, Harmonie- und Formenlehre voraus. Wie romantische Musik klinge bzw. wie sich ihr Stil beschreiben lasse, fragt Kapitel 2. Antworten liefern subtile Einblicke in Harmonik (bei Wagner kulminierende Verschleierung und Erweiterung der Tonalität im Dienst des Ausdrucks), Instrumentation und Polyphonie. Kapitel 3 zum Denken in Musik zielt auf deren Formenwelt: Wie funktioniert Musik als Sprache, wie ihre Syntax? Hier zeigen vergleichende Untersuchungen, welchen Umgang mit den tradierten Kategorien Lied- und Reihungsformen, Variation und Sonatenform das spezifisch Romantische, primär bedingt durch die treibende Kraft des Poetischen, ausprägt.
Über die Hälfte des gesamten Buchs umfasst Kapitel 4, gewidmet den Gattungen als „Orten“ romantischer Musik: Musik für Orchester mit romantischer „Durchdringung“ des Beethoven-Erbes und späterer Kontroverse zwischen Neudeutschen und Konservativen (Analysebeispiele: Gade, Elgar, Saint-Saëns, von Weber, Busoni), Kammermusik (Hensel, Mendelssohn, Smetana, Tschaikowsky), Klaviermusik (Liszt, Chopin, Schubert, Schumann), Vokalmusik (Brahms, Sibelius, Bruckner, Schumann), schließlich Musik für das Theater, womit der Band zunächst etwas unvermittelt zu enden scheint, substantiell aber in ein schlüssiges Fazit mündet: Zunächst tut sich Gemeinsames und Trennendes auf zwischen Wagners Tristan mit „unendlicher“ und Verdis Un ballo in maschera mit flexibel, „je nach den Erfordernissen der dramatischen Situation“ (S. 221) gehandhabter Melodie. Dann schließt Offenbachs satirisch Hochkultur und boomende Breitenunterhaltung verquickender Orphée, gefolgt von seiner „Apotheose eines romantischen, in Distanz zur Gesellschaft schaffenden (…) Künstlertums“ in Les Contes d’Hoffmann, die einen „eigenwillig resümierenden Kommentar der Epoche“ liefern. „Ihren Abgesang haben indes andere geschrieben.“ (S. 233)
Andreas Vollberg
Köln, 22.05.2023