Jörn Peter Hiekel: Helmut Lachenmann und seine Zeit [Rüdiger Albrecht]

Jörn Peter Hiekel: Helmut Lachenmann und seine Zeit – Lilienthal: Laaber, 2023. – 547 S.: s/w-Abb. u. -Fotos, Notenbsp. (Große Komponisten und ihre Zeit)
ISBN 978-3-89007-809-0 : € 46,80 (geb.)

Dem 1935 in Stuttgart geborenen, in Kürze das 88. Lebensjahr vollendenden Komponisten Helmut Lachenmann ist der neue, 42. Band der verdienstvollen Reihe Große Komponisten und ihre Zeit gewidmet. Lachenmann ist der erste Komponist, dem die Ehre zuteilwurde, zu Lebzeiten in die Reihe aufgenommen zu werden. Jörn Peter Hiekel, Autor der vorliegenden Monografie, hatte bereits 2019 eine Arbeit über Bernd Alois Zimmermann verfasst; Hiekel ist Professor an der Hochschule für Musik Dresden, Dozent bei den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik und an der Zürcher Hochschule der Künste. Er ist bestens vernetzt in der Neue-Musik-Szene und gilt als ausgewiesener Kenner der Musik Lachenmanns. Seine Publikationsliste, als Autor wie als Herausgeber, umfasst zahlreiche Arbeiten zur Neuen Musik, darunter mehrere Beiträge über das Werk Helmut Lachenmanns. Die vorliegende Arbeit erweitert das mittlerweile umfangreiche Schrifttum über Lachenmann um eine erste Monografie. Allein vom Umfang her steht sie neben zwei, 1996 und 2021 veröffentlichten, gewichtigen Schriftenbänden des Komponisten.

Der Untertitel Große Komponisten und ihre Zeit gibt die Zielrichtung der Buchreihe vor: Korrelation von Autorschaft mit Gegenwart. In der (obligatorischen) Chronik werden biografische Daten mit Ereignissen der Zeitgeschichte zusammengefügt: Der Portraitierte wird auf diese Weise zum Zeitgenossen, einem homo politicus. Im Falle Lachenmanns reicht die Chronik bis in die unmittelbare Gegenwart, der letzte Eintrag – die Uraufführung des zweiten Streichtrios Mes adieux im Mai 2022 – steht dem Beginn des Ukrainekrieges, drei Monate zuvor, gegenüber. Diese Konzeption der Buchreihe geht von der Idee des Werks als Teil einer Werkgeschichte aus, deren Sinn und Bedeutung in ihrer Schriftlichkeit fixiert ist, sie setzt den Fokus auf Einflüsse und Spuren aus der Musikgeschichte bis hin zu solchen von Zeitgenossen. Das Gesamtwerk eines Autors ist, so gelesen, das Resultat einer werkimmanenten Wirkungsgeschichte, Biografisches fließt darin ein, sofern es die Sicht auf das Werk erweitert. Die Frage stellt sich, ob mit der im Untertitel des Buches beschworenen „Zeit“ nicht auch Rezeptionsgeschichte gemeint sein könnte, Konstrukt verschiedenster Arten von Wahrnehmung, in dessen Licht ein Werk als etwas Wandlungsfähiges, Unbeständiges erscheint, hier konkret etwa im Falle der sehr leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um Lachenmanns Musik, die mit dem Erfolgsstück Mouvement (– vor der Erstarrung) (1982-84) und endgültig nach der Uraufführung der Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1990-96) eine geradezu unheimliche Akzeptanz, zumindest in Fachkreisen, erfahren hat? Lachenmann ist derzeit einer der wenigen lebenden Komponisten, dessen ästhetisches Denken und dessen Werk (noch) vor dem Horizont aktuellen Komponierens als Impulsgeber rezipiert werden, was es nachwachsenden Komponierenden erschweren dürfte, auch dank der gewachsenen Diversität musiksprachlicher Ansätze, einen entsprechenden Platz einzunehmen – sofern sich dies nicht längst schon als anachronistisch erwiesen haben sollte.

Hiekel umgeht, den Vorgaben des Verlags folgend, diesen letztgenannten Ansatz und beschränkt sich im Vorwort auf die Behauptung, Lachenmanns Bedeutung für die Musik des 20./21. Jahrhunderts sei „unbestritten“ (S. 9). Hiekel wertete für sein Buch neben den veröffentlichten Quellen auch zahlreiches schwer zugängliches Material aus, Skizzen, Briefe bis hin zu Anmerkungen in von Lachenmann gelesenen Büchern. Der Hauptteil des Buches, „Aspekte“ genannt (nebst einem Vorwort, der Chronik, einem Bildteil sowie einem Anhang mit einer systematischen Werkliste, einem sehr detaillierten Literaturverzeichnis und einem Personenregister) ist in sechs Kapitel unterteilt. In einem ersten Kapitel, „Kontexte“, stellt der Autor – zum Teil aus handschriftlichen Bemerkungen des Komponisten entwickelt – zentrale Positionen quasi als Eckpfeiler von Lachenmanns Denken vor. Ein emphatisches Musikverständnis, die Haltung zur Tradition sowie der Idee der Geistfähigkeit des Materials sind die Hauptthemen, die um Begriffe wie die des Magischen oder der Leere erweitert werden. „Unverlierbare Erfahrungen“, das zweite Kapitel, nimmt die Hauptprägungen durch die Erfahrung der Musik Stockhausens und Cages in den Blick, in erster Linie aber die seines Mentors Luigi Nono, speziell mit dessen Kantate Il canto sospeso (1956) und dem Konzertstück Varianti (1957). Die „Sprachfindungen“ zeichnen den Weg vom Trio fluido (1966) bis zum Salut für Caudwell (1977) nach, letzteres ein Werk für zwei rezitierende Gitarristen, und beschreiben die wichtigsten musiksprachlichen Themen Lachenmanns, seine Kategorisierung von Klangtypen der Neuen Musik, die Verwendung des Zeitnetzes und den Begriff der „Musique concrète instrumentale“. Die „Resonanzen“ schließlich spüren historischen Bezügen im Werk von Mahler, Berg, Webern und Strauss nach und verweisen auf jüngere Freundschaften mit Zender, Henze und Rihm. Hiekel nimmt hier Werke vom Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre in den Blick, von Notturno (1968) bis Mouvement. Die Schlusskapitel sind in der Hauptsache der Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern nach Hans Christian Andersen gewidmet sowie drei Werken, die zu der Oper in mehr oder weniger enger Beziehung stehen.

Jörn Peter Hiekel entfaltet in der vorliegenden Monografie ein beeindruckendes Panorama an Themen rund um das Werk von Lachenmann; es legt Zeugnis ab von der jahrzehntelangen Beschäftigung mit dessen Musik und Musikdenken. Das Buch ist zudem in einer klaren und verständlichen Sprache geschrieben und ist damit nicht nur dem akademischen Inner Circle vorbehalten. Doch gerade dies wirft Fragen auf, denn Hiekel setzt bei zahlreichen Themen das Wissen des Lesers voraus, ohne dass er Grundlegendes – bzw. dieses nur sporadisch und ansatzweise – erörtert. Der Autor hat offenbar den kundigen Leser im Blick, dem beispielsweise der Hintergrund der Henze-Lachenmann-Kontroverse bekannt ist. Der Hinweis auf solcherart Themen bleibt indes ohne nähere Erläuterung stehen, was Lesern, die mit den Voraussetzungen nur wenig vertraut sind, die Einordnung verwehrt. Problematisch ist es aber, diese Kontroverse zu erwähnen (und zusätzlich die versuchte Annäherung der beiden einstigen Kontrahenten kurz vor Henzes Tod), sie dann aber unkommentiert stehen zu lassen – ein Ärgernis für den informierten Leser. Eine Entschlackung so mancher Seitenpfade und die Konzentration auf einige wenige Hauptpfade wäre hilfreich gewesen. Der komplexe Aufbau des Buches führt zu einer gewissen Redundanz, wenn Themen und Begrifflichkeiten häufig wiederkehren – so ist an zahlreichen verstreuten Stellen vom Magischen im Schlagzeugkonzert Air (1969) die Rede. Doch hilft dies kaum, ein differenziertes Bild von diesem Werk – laut Hiekel einem Schlüsselwerk Lachenmanns – zu gewinnen, wenn nur Einzelaspekte zur Sprache kommen. Da das Buch ganz auf eine musikhistorische Einordnung Lachenmanns zentriert ist und biografische Erzählung sowie Analyse, als integrale Sicht auf ein Werk, außen vorlässt, sind die analytischen Bemerkungen zumeist Belege für Einzelaspekte, quasi eine Sicht von außen nach innen. Von der Musik selbst bleibt auf diese Weise nur eine blasse, konturenlose und ungreifbare Ahnung, an die Etiketten wie beispielsweise das „Magische“ geheftet werden. In der Erörterung des Zeitbezugs in einem „sprechenden“ Werk wie dem Salut für Caudwell wird der Fokus auf Musiksprachliches gerichtet sowie auf den Textautor und marxistischen Theoretiker Christopher Caudwell (1907-1937), aber das, was dieses Werk so einzigartig in den Jahren seiner Entstehung macht und wie es aus diesem Kontext heraus verstanden werden könnte, davon ist nichts zu lesen. Immer wieder werden Behauptungen aufgestellt, ohne ihnen weiter nachzugehen, so daß sie auf diese Weise schwammig bleiben. Beispielsweise, wenn Hiekel einen Einfluss der Musik Lachenmanns auf das Spätwerk Nonos vermutet (S. 82): Dies dann aber weder zu belegen noch auszuführen, entzieht derartigen Behauptungen jeglichen Sinn.

In den beiden Schlusskapiteln schwinden die Vorbehalte, wenn Hiekel die „Musik mit Bildern“ untertitelte Oper auf anschauliche Weise und deutlich detaillierter analysiert. Im Zentrum der Fragestellungen stehen hier Kategorien wie etwa das Abbildhafte oder Gestalthaftigkeit auch im Einsatz der Singstimme.

Letztlich kann diese umfassende wie materialreiche Monografie ihrem im Vorwort formulierten Anspruch, ein neues Bild, „eine dezidierte Neuakzentuierung“ auf Lachenmanns Werk sowie „eine Korrektur von Rezeptionsschieflagen“ zu vermitteln, kaum gerecht werden.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 05.07.2023

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