Heinrich Besseler und Jacques Handschin. Briefe 1925 bis 1954 [Peter Sühring]

Heinrich Besseler und Jacques Handschin. Briefe 1925 bis 1954. Kommentierte Ausgabe / Hrsg. von Jörg Büchler u. Thomas Schipperges – München: edition text + kritik, 2023. – 382 S., Notenbsp. (Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit)
ISBN 978-3-68916-660-5 : €  49,00 (kart.)

Nach etlichen Verzögerungen sind diese Dokumente sowohl eines gewichtigen wissenschaftlichen Austausches als auch gravierender menschlicher Schwächen, die der Briefwechsel zwischen den beiden musikalischen Mediävisten Heinrich Besseler (1900‑69) und Jacques Handschin (1886‑1955) darstellt, nun erschienen. Die vorliegende an der Universität Tübingen mithilfe der DFG erstellte kommentierte Ausgabe dürfte (oder sollte) die musikwissenschaftliche Zunft noch eine Zeitlang beschäftigen, ist sie doch einerseits ein Exempel für Ernsthaftigkeit und Wahrheitsliebe in wissenschaftlichen Debatten wie andererseits für professionelle Deformation und politische Verdorbenheit, die unweigerlich mit dem etablierten Wissenschaftsbetrieb verbunden sind und unter totalitären Bedingungen besonders eklatante Blüten treiben.

Die Briefe dieser beiden Forscher wären auf zwei Ebenen zu diskutieren: der rein wissenschaftlichen über die jeweiligen Gegenstände, die hier verhandelt werden, und einer kulturpolitischen über das Verhalten während der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, welches bei Besseler aus Opportunismus und ideologischer Verblendung gemischt erscheint. Bei der Diskussion der ersten Ebene ginge es um Fragen von Gattungszuordnungen schriftlicher Überlieferungen aus dem Mittelalter, ihrer Rhythmisierung und um die richtige Übertragung ihrer Notationsmodelle, und sie müsste mit Verweisen auf die Publikationen und Publikationsvorhaben dieser beiden und anderer Forscher fachlich ins Detail gehen.

Auf dieser Ebene zeigt sich Besseler als ein von den Mustern seines zweiten Lehrers Friedrich Ludwig überzeugter kluger Kopf, der ihre Hegemonie über alle Zweifel zu verteidigen sucht und dafür auch zu unbeweisbaren, spekulativen Visionen greift, während Handschin die Rolle des Zweiflers übernimmt, der auf Detailtreue pocht und immer auch andere Möglichkeiten zulässt und offenhält. Das Verhalten der Herausgeber zu diesen Fragen ist scheinbar neutral, rein dokumentarisch, anerkennt aber die Hegemonie der Ludwig-Schule und die damit verbundenen Legenden-Bildungen über deren errungene Deutungshoheit, welche die Mittelalterforschung schon in den 1940er und 1950er Jahren in eine gewisse Stagnation getrieben hatte und sie bis heute lähmt. Das wissenschaftstheoretische Selbstmissverständnis und die Selbstüberschätzung dieser Schule bleiben unangetastet. Schade, dass Handschin seinem Kollegen Besseler nichts von seinem nur angekündigten Besuch in Berlin und seiner Einsichtnahme in den Nachlass Jacobsthals in der Staatsbibliothek in Dezember 1937 brieflich erzählt hat, denn dabei hätte Handschin auffallen müssen, wie wenig weit es mit der Legende von einer Schülerschaft Ludwigs bei Jacobsthal her ist, die auch hier wiederholt wird.

Auf zwei intern wissenschaftliche Problemfelder gehen die Herausgeber in ihrer Einleitung ein: Fragen zur Quellenforschung und zu alter Musik im praktischen Vollzug. In beiden Punkten werden Vorzüge der Ludwig-Schule unterstellt. Anstatt die gegenseitige Beleuchtung praktischer und theoretischer Quellen des Mittelalters als unabdingbar für eine approximative Wahrheitsfindung zu betonen, wird eine Geringschätzung der theoretischen Quellen und ihre angebliche Verzichtbarkeit als ein Axiom der Ludwig-Schule in Form eines Zitats von Dénes von Bartha aus dem Jahre 1936 (S. 10) unkommentiert gelassen und so der Eindruck erweckt, man würde dem zustimmen. Ohne die Rolle von Intuition und künstlerischer Empfindung auch für eine wissenschaftliche Behandlung musikalischer Kunstwerke schmälern zu wollen, müsste man wohl die Einseitigkeit und Unergiebigkeit dieser theoriefeindlichen Einstellung betonen. Außerdem werden hier die von der Ludwig-Schule selbst fabrizierten Denkmäler-Ausgaben, die bearbeitete Transkriptionen darstellen, in den Rang von „Quellen“ erhoben, die sie nicht einmal in einem sekundären Sinne sind.

Was die Musikpraxis betrifft, so wird unterstellt, lediglich Besseler hätte ‑ in Gefolgschaft seiner Lehrer Wilibald Gurlitt und Ludwig ‑ sich an der Konzeption und Durchführung von Aufführungen mittelalterlicher Musik beteiligt („ein Anliegen vornehmlich Besselers“, S. 11, gemeint sind die Konzerte in Karlsruhe und Hamburg in der Mitte der 1920er Jahre, an denen Besseler auch als Sänger teilnahm), ohne auf die Serie solcher Konzerte, die Handschin in Bern, Zürich und Basel 1927 veranstaltete, einzugehen. Diese Serie mittelalterlicher Konzerte wurde von Handschin nicht nur moderiert, sondern auch vorbereitet. Er ließ sich zwar in Repertoire- und Übertragungsfragen von Ludwig beraten, konnte sich aber in seinem Bericht darüber in der Zeitschrift für Musikwissenschaft einer ketzerischen Bemerkung nicht enthalten: „Bei der dominierenden Stellung, die die ‚Modaltheorie’ heute einnimmt, bedarf es wohl einer Rechtfertigung, wenn in unserer Übertragung der Silbenrhythmus nicht einem der drei ersten Modi untergeordnet ist“.

Noch fragwürdiger sind die Resultate, die die Herausgeber in ihrer Einleitung über die politische Ebene der Auseinandersetzung zwischen beiden Forschern resümieren. Es ist sonderbar, dass sie gar nicht erst versuchen, die Hinwendung Besselers zum Nationalsozialismus mit seinen vorhergehenden Einstellungen in Verbindung zu bringen oder seine Verführbarkeit durch die NS-Ideologie aus seinen früheren Äußerungen herzuleiten. Auch Handschins relative Hilfslosigkeit und Duldsamkeit gegenüber diesem Absinken in totalitäre Anschauungen bedürften einer Erklärung. In menschlicher Hinsicht ist bei Besseler alles von innerwissenschaftlichem Konkurrenzdenken durchtränkt, geradezu lachhaft ist Besselers Behauptung, Ludwig habe seine Vorrangstellung in der Musikwissenschaft ganz ohne Machtausübung erreicht. Besselers Eingriffe in die akademische Laufbahn von liebsamen und unliebsamen Kollegen sind überliefert, er kann sich sogar abfälliger Bemerkungen über in die Emigration gezwungene Kollegen nicht enthalten und kann Bedenken gegen seine Person und Zurückweisungen seiner Ansprüche nach 1945 nur selbstmitleidig beklagen, hofft auf erneute Möglichkeiten, die Verbindungen zu den „alten Freunden im Ausland“ wieder aufnehmen zu können.

Besseler hatte sein musikologisches Profil und seine Reputation in der Zunft bereits vor 1933 erworben, einerseits durch den hochtrabenden Willen zu einer großartig angelegten Zusammenschau ganzer Perioden der Musikgeschichte, wie er sie in seinem Beitrag zu Mittelalter und Renaissance in Ernst Bückens Handbuch der Musikgeschichte vorgelegt hat, andererseits durch seine Betonung eines lebensweltlichen Zusammenhangs der Musikpraxis, die er mit verschwommenen Begriffen wie „unser musikalisches Dasein“ oder „Lebensbeziehung des Musizierens“ zu umschreiben versuchte und die er mit einer Gemeinschaftsideologie verkoppelte, die zwar jugendbewegt und antibürgerlich war, aber leicht ins Völkische gewendet werden konnte. Es gibt nicht nur eine „Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“ (Helmuth Plessner), sondern auch eine Verführbarkeit antibürgerlichen Geistes durch machtpolitische Konstruktionen, die den Staat zum Sachwalter von Gemeinschaftsbildungen machen, die für alle zwingend sind und durch die dann eine erstrebte kollektive Ursprünglichkeit des Musizierens im Volk verankert und politisch sanktioniert wird.

Um mit den realen Gewaltexzessen des totalitären Staates auch auf dem Gebiet der Kultur nicht allzu sehr in Berührung kommen zu müssen, hatte sich Besseler eine Art privaten idealen Nationalsozialismus gebastelt, dessen Axiome er dann Handschin auch referiert, und er hat sich dabei selektiv an bestimmte Nazi-Ideologen gehalten, andere relativiert, war also lieber dem Anthropologen Ernst Krieck gefolgt als dem ideologischen Reichsleiter Rosenberg. Diese kleinen Widersprüche und Abneigungen gegen bestimmte Tendenzen innerhalb des NS konnte man sich selbst und anderen gegenüber dann stets gut als „Widerstand“ auslegen und sich in die Position eines Opfers manövrieren. Hochinteressant ist die Art und Weise, wie Besseler, assistiert von Handschin, manövrierte und sich erneut anzupassen verstand, um im Wissenschaftsbetrieb der DDR zunächst in Jena, dann Leipzig Fuß zu fassen und sich zu einem streitbaren Bach-Forscher zu entwickeln sowie eine neue Schülergeneration heranzubilden, die unter seinem Bann stand.

Handschin hatte einen seltsamen Hang oder ein wohlverstandenes Interesse, seine Verbindungen zu deutschen Kollegen, die dem Nationalsozialismus verfallen waren, nicht abbrechen zu lassen und sich über sie auch weiterhin Publikationsmöglichkeiten in deutschen Fachzeitschriften zu verschaffen (in der Zeitschrift für Musikwissenschaft und im Archiv für Musikforschung). Einerseits hielt er wohl den Willen zur Stärkung des deutschen Reiches durch die nationalsozialistische Machtausübung für berechtigt und positiv (Bezugspunkt war stets der gemeinsame Antibolschewismus, denn Handschin war bereit, den Bewegungen Mussolinis, Hitlers und Francos insoweit heimliche Sympathie entgegenzubringen als sie helfen könnten, einen „roten Putsch“ in Europa zu verhindern). Andererseits bedauerte er, dass diese Politik in massenmörderische und kriegsverbrecherische Aktivitäten, in „Unzivilisiertheit“ ausartete, während Besseler die Zivilisiertheit des deutschen Reiches unter Hitler wegen der Überlegenheit der arischen Rasse durchaus zu verteidigen trachtete, um dem englischen Kollegen Dent, der Deutschland aus dem Kreis der zivilisierten Länder ausgeschlossen hatte, eine „gebührende Antwort“ zu erteilen (S. 85). Handschin fand, der Nationalsozialismus sei einfach eine Übertreibung eines gesunden Nationalbewusstseins, das sich durch nationale Traditionszusammenhänge definiere, und die Unzulässigkeit bestünde in der rassisch-völkischen Überhöhung. Dass ein wissenschaftlicher Kollege wie Besseler durch sein opportunistisches und mitläuferisches Verhalten mitschuldig geworden sein könnte an den verbrecherischen Folgen dieser Übertreibung, es damit unverzeihlich geworden wäre, konnte Handschin sich nicht vorstellen, und so ist sein Großmut und seine Hilfsbereitschaft Besseler gegenüber auch nach dem Krieg ziemlich groß. Der Hauptteil der Korrespondenz und der Zusammenarbeit beginnt überhaupt erst nach 1945.

Die editionstechnischen Prämissen und angewandten Methoden der Textkonstitution dieser Briefausgabe werden einleuchtend begründet und entsprechen den philologischen Standards. Die Stellenkommentare in Fußnoten zu den einzelnen Briefen bewegen sich auf zwei Ebenen: der zur Textkonstitution mit bibliographischen Angaben zum Zustand der Originale (alle stammen aus dem Nachlass Handschins, der die Briefe Besselers und seine eigenen im Durchschlag quasi druckfertig für ein Buch aufbewahrte) und der zu inhaltlichen Fragen mit einer Fülle von sachdienlichen Erläuterungen, Aufklärungen und Hinweisen. Ein 90seitiger Anhang enthält weitere Briefe von Dritten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Korrespondenz stehen, eine auf jeweils fünf Zeilen reduzierte Folge von Kurzbiografien der in den Briefen zur Sprache kommenden Personen, ein Schriftenverzeichnis Besselers und Handschins, ein Verzeichnis der verhandelten musikalischen Quellen und eins mit Editionen, Katalogen und Tonträgern. Das Literaturverzeichnis ist ungewöhnlich nicht alphabetisch nach Autoren, sondern, wie man es nur aus lexikographischer Praxis kennt, chronologisch aufgebaut und innerhalb der jeweiligen Jahreszahl (von 1852 bis 2021) dann alphabetisch sortiert. Der Nutzen dieses Verfahrens erschließt sich, wenn man es nicht nur zum Nachschlagen der im Haupttext gegebenen Hinweise benützt, sondern es (analog zu den gewechselten Briefen) als selbständiges bibliographisches Verzeichnis studiert mit der Frage, wann hat wer was geschrieben und welche zeitlichen und thematischen Querverbindungen gibt es. Nach Abkürzungs- und Siglen-Verzeichnissen beschließt ein nicht ganz lückenloses Register der erwähnten Personen den Band.

Diese Briefausgabe sollte wegen ihrer kulturpolitischen Brisanz und wegen des Einblicks, den sie in eine der schwierigsten und bis heute prägendsten Perioden der deutschen Musikwissenschaft und in die Abgründe der Gelehrsamkeit gewährt, stark rezipiert werden: sine ira sed cum studio.

Peter Sühring
Bornheim, 09.03.2023

Diese Rezension erschien zuerst in Forum Musikkbibliothek 2023/2; sie wurde für diese Veröffentlichung durchgesehen und leicht überarbeitet.

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