Mater celeberr. Mozart. Anna Maria Mozart zum 300. Geburtstag / Hrsg. von Anja Morgenstern und Eva Neumayr. – Wien: Hollitzer, 2023. – 233 S.: Farb- und s/w-Abb., Ill., Kt. (Schriftenreihe des Archivs der Erzdiözese Salzburg ; 27)
ISBN 978-3-99094-029-7 : € 43,00 (geb.; auch als eBook)
Die älteren Mozart-Biografen sind sich weitgehend einig darin, dass Mozarts Mutter Anna Maria, geborene Pertl (1720–1778), zwar warmherzig, humorvoll und eine tüchtige Hausfrau, aber doch von eher schlichtem Gemüt, ohne Bildung und nur eingeschränkt gesellschaftsfähig war. Von ihr stamme Mozarts Neigung zu derben Späßen, vom Vater dagegen das musikalische Talent. Den 300. Geburtstag der „Mozartin“ haben nun sieben Autorinnen und Autoren zum Anlass genommen, diese bislang „marginalisierte Nebenfigur“ der Mozartforschung in das Zentrum zu rücken und Aspekte ihrer Biografie neu zu beleuchten und zu bewerten. Die Beiträge sind das Ergebnis einer Online-Konferenz, die am 28. Mai 2021 von der Maria-Anna-Mozart-Gesellschaft in Kooperation mit der Internationalen Stiftung Mozarteum veranstaltet wurde.
Die originalen Quellen über Anna Maria Mozart sind spärlich. Es sind dies hauptsächlich Berichte über sie in den Briefen der Mozartschen Familienmitglieder sowie ihre eigenen rund 40 schriftlichen Äußerungen während der Parisreise 1777/1778. Allein schon deren Studium offenbart, dass das abschätzige Urteil der Mozart-Biografen eher einem überholten Frauen- und Weltbild geschuldet ist als einer auf sorgfältiger Recherche beruhenden Analyse. Anna Maria Mozart erscheint in der Familienkorrespondenz als aufmerksame Beobachterin des europäischen Musikbetriebs, die selbstbewusst musikalische Geschehnisse kommentierte und die Qualität musikalischer Aufführungen zu beurteilen wusste.
Dass sie kein Instrument spielte, hatte soziale und geografische Gründe, wie Eva Neumayr nachweist. Im 18. Jahrhundert habe es für Mädchen nur vier Möglichkeiten einer musikalischen Ausbildung gegeben: Entweder wurden sie von musikalisch gebildeten Eltern unterrichtet, gingen mit einer möglichst ansehnlichen Mitgift als „Chorschwester“ in ein Kloster, kamen als Waisenmädchen an eines der vier großen Ospedali in Venedig oder waren finanziell in der Lage, Privatstunden zu nehmen. Keine dieser Möglichkeiten kam für Anna Maria infrage. Ihr Vater Wolfgang Nikolaus Pertl, studierter Jurist und Pflegskommissär in St. Gilgen, hinterließ bei seinem Tod 1724 nicht unerhebliche Schulden. Seine Frau Eva musste mit ihren beiden kleinen Töchtern die Dienstwohnung verlassen und siedelte nach Salzburg über. Dort lebte sie in ärmlichen Verhältnissen. Nebenbei bemerkt, war Pertl während seiner Studienzeit in Salzburg wiederholt solistisch als Sänger und Instrumentalbassist aufgetreten und hatte Gesangsunterricht gegeben. In Anna Marias Herkunftsfamilie gab es also durchaus eine musikalische Begabung.
Oft wird als Beweis für Anna Marias mangelnde Bildung ihre „ungeläuterte“ Orthografie (Wolfgang Hildesheimer) ins Feld geführt, die sich erheblich von der Leopolds unterscheidet. Auch hier weist Eva Neumayr nach, dass quer durch die Familie Mozart eine Sprachgrenze verlief: Während sich Anna Maria der oberdeutschen Literatursprache befleißigte, wie sie im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts in Süddeutschland und Österreich in der Schule unterrichtet wurde, war Leopold bei der Abfassung seiner Violinschule und in seinem Schreibstil bereits von der aktuellen Fachliteratur über das neue Hochdeutsch Leipziger Prägung beeinflusst. Für seine Frau habe es keine Veranlassung gegeben, für ihre private Korrespondenz eine andere Rechtschreibung zu benutzen als die, die sie gelernt hatte. Eva Neumayr rechnet vor, dass Anna Maria auch in die Erziehung ihrer Kinder mehr eingebunden gewesen sein muss, als bisher angenommen. Das zeige eine realistische Einschätzung des Zeitaufwands, den Leopold für seine dienstlichen Aufgaben benötigte. Demnach könne er es kaum geschafft haben, seine Kinder neben der musikalischen Ausbildung auch noch in Lesen, Schreiben und Rechnen zu unterrichten. Es liegt nahe, dass seine Frau hier involviert war. Wäre sie so ungebildet gewesen, wie vielfach behauptet, hätte Leopold sie zudem wohl kaum während seiner Italienreise mit Angelegenheiten zum Vertrieb seiner Violinschule betraut.
Die „Mozartin“ schätzte das Reisen, wie Käthe Springer-Dissmann in ihrem Beitrag über Anna Marias Reisetätigkeiten darlegt. Sie unternahm gern Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten und Kunstwerken, erfreute sich an Landschaften und Gärten und interessierte sich für fremde Sitten und Gebräuche. Sie kommentierte nicht nur das jeweilige Musikgeschehen, sondern auch Fragen der Wirtschaft, der Alltagskultur, der Religion und der Politik. Bei zahlreichen Empfängen und Konzerten in Adelsresidenzen und Fürstenhäusern war sie selbstverständlich dabei. Stolz berichtet Leopold 1768 von Wien nach Salzburg, wie sich seine Frau angeregt mit Kaiserin Maria Theresia über die Pockenerkrankung ihrer Kinder und die dreieinhalbjährige Europareise unterhalten habe. Soviel nur zu ihrer angeblich begrenzten Gesellschaftsfähigkeit.
Weitere Beiträge von Wolfgang Neuper, Mirijam Beier, Anja Morgenstern, Monika Kammerlander und Christoph Großpietsch untersuchen das historische und soziale Umfeld Anna Marias, das kulturelle Handeln von Musikermüttern im 18. Jahrhundert, die Netzwerkbildung berühmter Musikerinnen im Umfeld der Familie Mozart sowie die Darstellung Anna Maria Mozarts in Bildern.
Fazit: Die Beiträge revidieren das in der älteren Mozart-Biografik überlieferte Bild der Mutter von Wolfgang Amadé Mozart aus verschiedenen Blickwinkeln heraus. Sie zeigen sie als aufgeschlossene, an ihrer Umwelt interessierte Frau, die ihrem Mann in vielen Bereichen eine Partnerin fast auf Augenhöhe war und die auf die Entwicklung ihres berühmten Sohnes einen stärkeren Einfluss hatte, als bisher angenommen. Allein schon unter diesem Aspekt war die Publikation überfällig. Der Sammelband richtet sich primär an ein wissenschaftliches Fachpublikum. Die Rezensentin würde sich wünschen, dass die Neubewertung der Fakten und Quellen zu einer literarischen Biografie über die „Mozartin“ anregt, die auch eine wissenschaftlich nicht vorgebildete Leserschaft erreicht.
Verena Funtenberger
Essen, 15.07.2023