„Glück, das mir verblieb“. Ein Erich Wolfgang Korngold-Lesebuch / Hrsg. von Heide Stockinger. – Wien [u.a.]: Böhlau, 2022. – 230 S.: 58 s/w-Abb.
ISBN 978-3-205-21520-2 : € 32,00 (geb.; auch als e-Book)
Aus Liebe zum Thema brachte Böhlau Wien 2020 ein ansprechendes, in seiner Art neuartiges Lehár-Lesebuch heraus. In ähnlich fürsprechender Absicht machte sich Co-Herausgeberin Heide Stockinger für einen weiteren Komponisten-Landsmann ans Werk und stellte dem Erstling ein in Gestalt und Umfang deckungsgleiches Korngold-Lesebuch zur Seite. Langjährige Literaturredakteurin bei ORF und Radio OÖ, lässt Stockinger es auch hier echt österreichisch zugehen – vom Thema ohnehin, doch auch beim Gros der Beiträger. Resultat ist ein perspektivenreiches Kaleidoskop mit viel Persönlichem und Speziellem zu Erich Wolfgang Korngold (1897–1957).
Aus kosmopolitischer Sicht aber freut sich zunächst die australische Stardirigentin Simone Young in ihrem Geleitwort über das Korngold-Revival der letzten Jahrzehnte. Dass im Fall Korngold nach wie vor von Revival eines Vergessenen und Optimierungsbedarf die Rede sein muss, unterstreicht auch das Vorwort der Herausgeberin, das die gesammelten Texte kursorisch in einen Sinnzusammenhang stellt.
Nun bleibt auch der Begriff des Vergessens relativ. Denn total verstummt war Korngolds Musik zu keiner Zeit. Bezeichnend aber bleibt, dass seine tonal verwurzelte Moderne für die Anwälte der Avantgarde nach 1945 nicht mehr angesagt schien – ein Schicksal, das sie mit stilverwandten, von den Nazis als „entartet“ diffamierten Richtungen teilte. Gefragt war die progressive, serielle Schönberg-Nachfolge. Chancen für eine Neuetablierung Korngolds und jene seiner Zeitgenossen, die das Erbe der Spätromantik kreativ auf die Höhe ihrer Zeit geführt hatten, ergaben sich erst ab den 1970-er Jahren, als Komponisten und Ausführende in Abkehr von puristischer Fortschrittsdoktrin auf Romantisches und Retrospektives zurückgriffen. Und damit wurde Korngold zum Reizthema: Sohn des konservativ federführenden Wiener Kritikers Julius Korngold, versetzte das Wunderkind einen Gustav Mahler oder Bruno Walter in Erstaunen mit einem Kompositionsniveau, das nach wenigen Debütwerken zu hochkomplexen Fin-de-Siècle-Partituren ansetzte. Opern entstanden. Hauptwerk blieb Die tote Stadt von 1920. Nach Verbot durch die Nazis in Deutschland wurde für den Juden und seine engere Familie auch die Lage in Österreich seit dessen Anschluss lebensbedrohlich. Die Rettung kam mit einem Filmmusikauftrag zu Robin Hood aus Hollywood und dem anschließenden amerikanischen Exil für Familie und Eltern. Dort oscarprämiert und hochrenommiert für stilbildende Soundtracks, blieben Nachkriegsbesuche in der alten Heimat ernüchternde Episode.
Großen Monographien, Kongressberichten und Quelleneditionen, die seither erschienen sind, erweisen auch die Autoren des Lesebuchs Reverenz. Dank unterschiedlicher Textgenres, ungeahnter Blickwinkel und gezielter Aktualität bis ins Heute bereichern aber auch sie das Spektrum sachkundig, literarisch, bibliophil, griffig und leserfreundlich. Wie sie „mit Demut den Verpflichtungen als Verwalterin des Vermächtnisses“ (S. 29) nachkommt, berichtet vorneweg die Violinistin Kathrin Hubbard Korngold, die, beim Tod des Großvaters drei Jahre alt, sich dennoch „sehr genau an das Leben am Toluca Lake“ (S. 23) erinnern kann. Personalia durchleuchtet dank biographischer Expertise Kurt Arrer mit Einblicken in die innere und seitenverwandte Korngold-Familie (zentral: Vater Julius, schockierend: viele Holocaust-Opfer), deren Wiener Zweig stellvertretend für viele jüdische Familien stehe, die Österreich einstmals nachhaltig prägten. Gleich instruktiv begleitet Arrer Korngold „auf Sommerfrische“, vorzugsweise im Salzkammergut, und fokussiert neben diversen kompositorisch ergiebigen Urlauben das Leben im 1933 erworbenen Schloss Höselberg bei Gmunden und die turbulenten Vorgänge um dessen Beschlagnahmung und Veräußerung 1949. Und zum Dritten skizziert Arrer die aktuelle Korngold-Neubewertung pars pro toto anhand früherer Aufführungsgeschichte vs. spektakulärer Wiederentdeckungen bei den Salzburger Festspielen. Mit dem originellen Einfall, Korngolds hochgebildete Ehefrau und Biographin Luzi in einem fiktiven Interview zu porträtieren, steigert Lis Malina die Leserempathie, insbesondere zum Exilantenschicksal. Lust auf Korngolds heterogenes Liedschaffen weckt Oswald Panagl. Und für gleich zwei Werksphären macht sich mit exegetischem Spürsinn und passionierter Feder Gottfried Franz Kasparek stark: das Instrumentalwerk als „Sieg der Lebensfreude“ (S. 135) sowie für die zumal vom Vater elitär beargwöhnten Operettenbearbeitungen zum Updating von Johann Strauss u.a. – im Schlepptau eine eigene Quasi-Operette und Trouvaille namens Die stumme Serenade.
Zum Exil in der Filmmetropole Los Angeles, die auch letzter Wohnsitz blieb, breitet Karin Wagner neben Musikalischem ein atmosphärisch reiches Szenario der Freundschaften und kollegialen Verbindungen zu Mitbetroffenen aus, darunter Arnold Schönberg oder Eric Zeisl.
Nicht nur titelgebend „Korngolds Frack bei der Oscar-Verleihung“, sondern viele weitere Erinnerungsstücke und Nachlassbestände befinden sich im Wiener Exilarte Zentrum, einer Forschungsstätte zu in der NS-Zeit verfolgten oder ermordeten Musikerinnen und Musikern. Dieses und ihren Weg zur dortigen Mitarbeit schildert Nobuko Nakamura.
Wissenschaftlich fundiert erschließt ein nachgedruckter Essay von Kerstin Schüssler-Bach, wie Karoline Gruber in ihrer Hamburger Inszenierung der Toten Stadt 2015 deren psychoanalytischen Kern (Abkehr des Witwers Paul von obsessiver Trauer durch ein kathartisches Traumerlebnis) unkonventionell mit offenem Ausgang in Szene setzt. Um Die tote Stadt kreist in einem Crossover auch das Gespräch zwischen Heide Stockinger und dem bildenden Künstler Robert Oltay, der in einem kombinatorischen Kunstwerk u.a. Motive der Oper zum Gemälde Die tote Stadt III des Expressionisten Egon Schiele in Beziehung setzt.
Vorbildlich fällt der Anhang aus: biographische Übersicht, Korngold heute (Bühne, Konzert, Medien; Stand: Januar 2022), Autorenporträts, Personenregister. Beste Empfehlungen!
Andreas Vollberg
Köln, 24.11.2022