„Dein ist mein ganzes Herz“. Ein Franz-Lehár-Lesebuch / Hrsg. von Heide Stockinger und Kai-Uwe Garrels. – Wien: Böhlau, 2020. – 230 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-205-20963-8 : € 23,00 (geb.)
Gleich zweimal kommt der Verlag Böhlau 2020 zum 150. Geburtstag des silbernen Operettenmeisters Franz Lehár (1870-1948) groß heraus. Da ist zum einen das 1999 zuerst bei Insel erschienene biographische Standardwerk von Stefan Frey in grundlegender Überarbeitung – nun stärker auf die Person konzentriert unter dem keineswegs verklärend gemeinten Titel Der letzte Operettenkönig (Besprechung folgt). Zuvor aber überraschte Böhlau mit einem in seiner Art neuartigen Franz-Lehár-Lesebuch unter dem Motto „Dein ist mein ganzes Herz“ nach dem tenoralen Welthit aus dem bis heute viel gespielten Land des Lächelns. „Ein“ Lesebuch (unter möglichen weiteren?) verweist auf die Offenheit, Unerschöpflichkeit eines Phänomens. Und das namentlich aus Schultagen geläufige Format Lesebuch erinnert manchen an literarische Buketts und Anthologien, deren Fokus auf Einladung und Faszination, kaum auf distanzierender Hinterfragung des Präsentierten lag. Wurzelt der Ansatz des Biographen Frey grundlegend in einer historisch-kritischen Analyse der bis heute strittigen Fragen, Krisenmomente und Bewertungsoptionen zu Werk und Vita, spricht aus den Beiträgen zum Lehár-Lesebuch durchgehend Sympathie und Enthusiasmus. Gleichwohl äußert sich dies spürbar im Bewusstsein verbliebener Problemfelder, ästhetischer Streitfragen und manchem aus Rezipientensicht des 21. Jahrhunderts Diskussionswürdigem.
Schon im persönlich-anekdotischen Geleitwort „Mein Lehár …“ des medialen Allroundtalents Christoph Wagner-Trenkwitz, amtierender Chefdramaturg der Wiener Volksoper, mischt sich in die Hommage und Lehár-Mission eine symptomatische Ambivalenz, die auch manche Folgebeiträge nicht unberührt lässt. Selbst einem „der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts (ja, dafür halte ich ihn)“ (S. 7) wird posthum versichert: „Auch wenn es in Ihren späten Werken für meinen Geschmack bisweilen zu sentimental zugeht, sind Sie wirklich ‚meiner‘.“ (S. 10). Momentaufnahmen wie diese, statt rundem Ganzen eher nach individuellen Gustos ausgewählte Facetten scheint auch der Blick aufs Inhaltsverzeichnis anzukündigen. Doch der Schein trügt. Wesentlicheres und Ungeahntes erschließt sich auch dem Skeptiker, der Lehár schon ad acta sah. Nach einem anregenden Überblick versichert das Herausgeber-Vorwort zurecht, man habe „das zu sammeln versucht, was dem Musikhörer, dem Besucher des Musiktheaters vielleicht verborgen bleibt.“ (S. 17) Einleitend und leitmotivisch insistierend aber heißt es hier ungeschönt: „Mehr k. u. k. geht nicht!“ Schließlich blieb der gebürtige Ungar als Sohn eines Militärkapellmeisters und vor seiner Operettenkarriere selbst in diesem Amt Tätiger bis zuletzt ein Kind der untergegangenen Habsburgermonarchie, dem auch kaiserlich-preußische Kreise, später das NS-Regime, nicht abhold waren.
Wie leisten die hier versammelten Fachautoren dem Altmeister Reverenz? Welche Wege weisen sie für eine gewinnende Lehár-Rezeption auch im 21. Jahrhundert?
Co-Herausgeber Kai-Uwe Garrels lässt Lehárs frühe Wiener Operettenjahre vor dem 1905-er Welterfolg Die lustige Witwe Revue passieren. Nach finanziellem Rückschlag mit der 1896 uraufgeführten ernsten Oper Kukuška und kurzzeitiger Kapellmeisterstelle am Theater an der Wien hatte er dort mit dem Operettenerstling Wiener Frauen sowie am Carl-Theater mit dem Rastelbinder reüssiert. Eine Handvoll weiterer Werke erzielte kein nachhaltiges Echo. Zumindest kann Garrels hier an Die Juxheirat mit ihrem zeitnahen Sujet um Automobil, Frauenbewegung und einen amerikanischen Milliardär erinnern.
„Lehár heute“ wiederum spricht aus dem Plädoyer eines der rührigsten Lehárianer für eine Aktualisierung der zeitgebundenen Libretti und Szenarien mit Blick auf Publikumspräferenzen des 21. Jahrhunderts: Michael Lakner, Pianist, Regisseur und langjähriger Intendant, nunmehr Ehrenmitglied des Lehár Festivals Bad Ischl, erklärt seine innovativen Inszenierungskonzepte aus der ideellen und psychologischen Substanz dreier in ihrer folkloristischen Farbe so unterschiedlichen Werke wie Zigeunerliebe (1910), Die blaue Mazur (1920) und Der Zarewitsch (1927). Lakners Ideal: „Lebensnahe Charakterisierungen von Personen und Typen sollen eine starke Identifikation eines modernen und aufgeklärten Publikums mit Lebensentwürfen und Geschichten von anno dazumal ermöglichen.“ (S. 45)
In eine mediterrane Urlaubserinnerung kleidet der auch gesanglich versierte Straßenbauingenieur Eduard Barth das bei Lehár notorische Phänomen der Umarbeitung weniger florierender Produkte in stofflich oft radikal neue Bühnenkreationen. Der Sterngucker etwa mutierte dank des gewieften Tausendsassas Carlo Lombardo zu einem einträglichen La danza delle libellule, der den Chronisten 1982 in Triest nachhaltig erstaunen ließ.
Ein zentrales Schlaglicht setzt die als Kulturredakteurin und Editorin erfahrene Mitherausgeberin Heide Stockinger mit einer philologisch tiefblickenden Studie zu Lehárs Lieblingskind und „deutschester“ Operette Friederike (1928). Dem von Puristen und Hochwertästhetikern vielgeschmähten Singspiel tut Stockingers vergleichende Sicht auf Plot und Vorlage gut. Schließlich geht es um die Romanze des jungen Johann Wolfgang von Goethe mit der elsässischen Pfarrerstochter Friederike Brion und deren schmerzvollem Liebesverzicht wegen Berufung des künftigen Dichterfürsten nach Weimar. Was bei den Librettisten Fritz Löhner-Beda und Ludwig Herzer historische Wahrheit und dichterisch-bühnenwirksame Erfindung ist, wo und wie echtes oder stilisiertes Goethe-Zitat in Töne gesetzt sind, beleuchtet ein instruktiver Abgleich mit verbürgten Fakten und im wahrsten Sinne des Wortes Dichtung und Wahrheit aus Goethescher Feder. Plausibel kann Stockinger zum Streitpunkt Goethe-Authentizität mit Blick auf die Protagonisten der Berliner Uraufführungsproduktion rhetorisch fragen: „Ist Richard Taubers Goethe, als er mit gesungenen Goethe-Worten Käthe Dorschs Friederike hunderte Male umgarnte und das Publikum zu Tränen rührte, weniger authentisch?“ (S. 70) Zuletzt hat auch für Stockinger Lehárs Bühnenwerk – sei doch die Friederike-Musik „gar nicht kitschig!“ (S. 87) – nur mit verändertem Inszenierungsrahmen Überlebenschancen. Angesprochen wird zuvor ein weiterer virulenter, kontrovers diskutierter Aspekt: die Rolle von Werk und Person Lehárs unterm NS-Regime. So diskreditierten Nazi-Funktionäre das Singspiel wegen der jüdischen Librettisten und Taubers jüdischer Herkunft als „undeutsch“. Von den Bühnen verschwand es nach Stockingers Recherche indes nicht, mochte auch Löhner-Beda im KZ ermordet worden und Herzer im Exil verstorben sein.
Um einen speziellen Vorgang der NS-Kulturpolitik im engeren Sinne kreist mit intensiver Quellenauswertung der nachfolgende Hauptbeitrag. Hintergrund ist Lehárs privilegierte Position innerhalb der Goebbelsschen Kulturpolitik. Gelang es dieser doch nicht annähernd, den durch Verbot jüdischer Autoren verschuldeten Operetten-Aderlass durch eine rein „arische“ Produktion zu kompensieren. Mit dem Untertitel „Operetten-Arisierung und ‚braune Nachrede‘“ untersucht Wolfgang Dosch, wie es dem Schriftsteller Rudolf Weys durch den Auftrag, Lehárs frühen Rastelbinder um den jüdischen Zwiebelhändler Pfefferkorn in eine NS-kompatible Form zu bringen, geglückt ist, sich selbst vom Militärdienst fernzuhalten und das Leben seiner jüdischen Frau vor tödlichem Zugriff zu retten. Verzögerungen halfen. Wegen seiner jüdischen Ehefrau Sophie in ähnlicher Lage, habe Lehár trotz fehlenden künstlerischen Interesses das Projekt unterstützt. Entsprechend konzediert Dosch summierend „Lehárs gespaltenes Verhältnis zur Politik des Dritten Reiches“ (S. 115-116), betont dagegen „vor allem seinen Einsatz für davon bedrohte Menschen und Mitarbeiter“ (S. 116) wie seinen früheren Librettisten Victor Léon und hält „unreflektierte ‚braune Nachrede‘, vor allem von Journalisten jüngerer Tage, die sich reißerisch etwa mit Behauptungen über Lehár als ‚der Mann, der Löhner-Beda im KZ umkommen ließ‘, zu vermarkten suchen, für nicht angemessen“ (S. 118).
Dass der spätere Lehár ab Paganini (1925) nicht denkbar ist ohne die enge Freundschaft und künstlerische Symbiose mit dem Startenor Richard Tauber, würdigt Kai-Uwe Garrels, indem er einschlägige Passagen aus einem von Taubers Cousin und Manager Max Tauber bearbeiteten autobiographischen Typoskript kommentiert und wiedergibt – nicht ohne nötige Korrekturen und Klarstellungen. Wer bis zu dieser Etappe des Lehár-Reigens wichtige biographische Fakten und personelle oder familiäre Konstellationen vermisst hat, findet sie eingewoben in zwei museums- und architekturgeschichtlich grundierten Kapitel zu Lehárs letzten Hauptwohnsitzen: der 1912 erworbenen Lehár-Villa Bad Ischl, nicht ohne pathetischen Elogenton atmosphärisch intensiv durchleuchtet von Helga Maria Leitner, sowie dem Wiener Lehár-Schlössl, gekauft 1932, zu dem wiederum Heide Stockinger sachkundig mit Wissenswertem und Aufschlussreichem in einem selbst so genannten literarischen, auch teilfiktionalen Potpourri (mit tragender Rolle des einst militärisch ranghohen Lehár-Bruders und Freiherrn Anton) aufwartet, zugleich einlädt zum Besuch unter Führung der hochbetagten Bewohnerin oder zu einem aparten Veranstaltungsprogramm. Im Anhang – u.a. mit Bibliographie der wichtigsten Referenzliteratur und vieler Presseorgane – bietet Garrels‘ biographisches Tableau ein gedächtnisstützendes Repetitorium.
Andreas Vollberg
Köln, 03.07.2020