Ziegenmeyer, Annette: Yvette Guilbert. Pionierin einer musikalischen Mediävistik zum Hören – Köln: Dohr, 2013. – 429 S.: Abb. (musicolonia ; 11)
ISBN 978-3-86846-111-4 : € 49,80 (geb.)
Das Buch beschäftigt sich erfreulicherweise fast ausschließlich mit der so genannten zweiten Karriere der Chansonnière Yvette Guilbert (1865‑1944), deren erste um die vorletzte Jahrhundertwende durch ihre Silhouette und Posen, wie sie der Zeichner Toulouse-Lautrec festgehalten hat, berühmt geworden ist. Ab 1904 aber wechselte Guilbert das Repertoire und widmete sich fortan vornehmlich modernen Arrangements von mittelalterlichen Chansons und Mirakelspielen. Man kann Ziegenmeyers Darstellung der attraktiven und exzentrischen Sängerin und Choreografin Guilbert und ihrer Mittelalter-Szenarien einiges abgewinnen, v.a. gewährt der dem Buch beigegebene, über 100 Seiten starke bebilderte Dokumentenanhang einen authentischen Einblick in Guilberts Produktionen.
Mittelaltersehnsüchte, Träume vom Mittelalter gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele, auf Seiten von Künstlern und von Wissenschaftlern. Das Hauptproblem solcher Versuche wie der Guilberts, einen Sprung in vergangene und fernliegende Kulturen zu wagen, ist das ihnen zugrundeliegende Einfühlungsschema. Nach ihm soll es ausreichen, sich in Übereinstimmung mit etwas Fremdartigem zu fühlen, um berechtigt zu sein, es sich und anderen auf eine willkürlich und subjektiv adaptierte Weise zu vermitteln, d.h. in die Sphäre des Hier und Jetzt zu rücken. Und so folgt die Autorin der von ihrer musikwissenschaftlichen Mentorin formulierten Aufgabe: „Guilberts Postulat ’lebendiger Geschichte’ gewinnt dann an Attraktivität, wenn künstlerisches Einfühlungsvermögen zum adäquaten Vehikel für die Vermittlung von Geschichte in die Gegenwart wird – und die Suche nach Authentizität zugunsten des Anliegens, Geschichte vermitteln zu wollen, zurücktritt. Die Suche ist heute ebenso aktuell wie vor hundert Jahren.“ (Annette Kreutziger-Herr, Ein Traum vom Mittelalter, Köln 2003, S. 182) Dieser esoterisch anmutenden Prophezeiung wollte die Autorin mit ihren näheren Untersuchungen zu Guilberts Lebensweg und Hinterlassenschaft offensichtlich Taten folgen lassen. Besser wäre es gewesen, Ziegenmeyer hätte sich auf die dokumentarische Darstellung und ästhetische Interpretation der Aufführungen und Unterrichtsmodelle Guilberts beschränkt, statt sie in Form einer dekonstruktivistischen „Überschreibung“ in einen Zusammenhang hineinzukomplimentieren, in den sie eigentlich nicht passen. Literarische und musikalische Chinoiserien gab es zu jener Zeit auch, aber keiner wird sie für Beiträge zur Sinologie halten, obwohl die spirituellen Chinafahrer ihre Beziehungen zu mehr oder weniger seriösen Sinologen unterhielten.
Natürlich gehörte eine Darstellung einer bestimmten Art der künstlerischen Mittelalterrezeption oder (um das Zauberwort auch zu benutzten) einer hier bemühten „künstlerisch-didaktischen Mittelaltervermittlung“ auch in das Fach der musikalischen Mediävistik, wäre es im vorliegenden Fall nicht eine jener rezeptionsgeschichtlichen Bemühungen, die meinen, das Rezipierte oder Vermittelte selbst nur aus zweiter Hand kennen zu müssen. Was Ziegenmeyer hierbei unterlässt, ist eine wirklich aktuelle Auseinandersetzung mit dem heutigen Stand der musikalischen Mediävistik, denn um Guilbert in diesem „Kräftefeld“ unterbringen zu können, begnügt sie sich erstens mit der Wiedergabe verkürzter wissenschaftshistorischer Legenden, wie sie erstaunlicherweise noch am Anfang des 21. Jahrhunderts möglich waren. Zweitens ignoriert sie heutige Versuche, mittelalterliche Gesänge ohne Bearbeitungen (ja sogar ohne Transkriptionen in moderne Notenschrift), aus der Interpretation der Originalquellen heraus zum Hören zu bringen. Drittens ignoriert sie frühere Versuche musikalischer Mediävisten wie z.B. Gustav Jacobsthal, sich auf wissenschaftlichem Gebiet dem Noten- und Klangbild des Mittelalters von innen, aus sich selbst heraus, aus mikroskopischem Wissen um das Entwicklungskontinuum oder der Brüche heraus zu nähern.
Mit dem Einfühlungskonzept, das in Wirklichkeit bedeutet, die Vergangenheit seinen gegenwärtigen Interessen und Geschmacksrichtungen zu unterwerfen, haben viele künstlerisch hochbegabte Schwarmgeister operiert; es besteht aber kein vernünftiger Grund, ihnen zu folgen. Denn mit diesem Mittel wird man kaum je zu dem durchdringen, was im Mittelalter wirklich los war. Wenn man Ziegenmeyers Schilderungen der Konzert- und Lehrtätigkeit Guilberts und deren Noteneditionen altfranzösischer Chansons folgt, kann man sich lebhaft vorstellen, wie das geklungen hat, was sie für eine zeitgemäße Vermittlung mittelalterlicher Musik hielt. Guilbert hatte (sicherlich mit Hilfe einer bestimmten Generation und Sorte von stark philologisch, also auf das Sehen fixierten Musikwissenschaftlern) die Werke arrangiert, d.h. „originale“ alte Chansonmelodien ihres tongeschlechtlichen Umfelds beraubt, sie im Rahmen der klassisch-romantischen Tonalität harmonisiert, taktiert und rhythmisiert (vorwiegend in rhythmischen Modi oder frei) und sie entweder wie moderne Chansons vorgetragen oder als inszenierte Chansons theatralisch im Rahmen eines auch von ihr angestrebten „Gesamtkunstwerks“ bearbeitet. Nicht diese Ästhetik steht zur Debatte, sondern der ihr von Ziegenmeyer angediente Anspruch, ein Beitrag zu einer „musikalischen Mediävistik des Hörens“ darzustellen. Was hätte damals oder sollte heute ein musikalischer Mediävist davon übernehmen oder daraus lernen können? Höchstens, wie man es zwar machen kann und darf, als Moyenagerie sozusagen, es aber doch zu einer hörenden Aufhellung der Praktiken mittelalterlichen Musizierens gar nichts beitragen kann. Diese weitest mögliche Aufhellung (wer spricht von Klärung?) sollte doch wohl der Anspruch einer musikalischen Mediävistik sein ‑ und übrigens auch der einer historisierenden Aufführungspraxis mittelalterlicher Gesänge, von der sich Ziegenmeyer seltsam unwissend distanziert.
Und so gehen ihre Klagen über die Dominanz des Sehens und die Missachtung weiblicher Beiträge zur Mittelalterforschung ins Leere. Guilbert (und in ihrem Gefolge Ziegenmeyer) haben die von dem Romanisten Jean Baptist Beck „gesehenen“, ihm von seinem Lehrer Friedrich Ludwig aufgedrängten modalrhythmischen Verhältnisse übernommen und nicht anhand der Quellen (zu denen auch Ziegenmeyer kaum ein Wort verliert) hinterfragt. Das eigentliche Problem liegt aber in den vielfältigen Metren der altprovenzalischen Kunstsprache, in denen die Trobadorlieder gedichtet wurden und an dem sich der musikalische Rhythmus orientieren musste. Zwei anderslautende, offenere Ansichten über den Trobadorgesang sowie über die Bedeutung der Chansons-Refrains für die frühen Motetten, jene von Jacobsthal und Yvonne Rokseth (zufällig die beiden theoretisch-praktischen, sehend-hörenden Doppelbegabungen auf diesem Sektor und zu verschiedenen Zeiten an der Universität Straßburg tätig), konnten Guilbert nicht bekannt sein. Der diesbezügliche Nachlassteil des einen war noch nicht ediert, die Interpretation der anderen noch nicht publiziert, denn der 1939 fertiggestellte vierte Teil ihrer Edition des Codex Montpellier mit der Interpretation der gesamten polyphonen Musik des 13. Jahrhunderts, konnte erst vier Jahre nach Guilberts Tod und drei nach dem Krieg, der deren Erscheinen verhindert hatte, herauskommen ‑ ein Umstand, der bei Ziegenmeyer nicht einmal bibliografisch vermerkt wird. Die musikalische Mediävistik des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts war also aus heutiger Sicht real reichhaltiger und auch schon hörender, als die selektive Darstellung Ziegenmeyers es vermuten lässt.
Peter Sühring
Berlin, 29.04.2014