Michael Stegemann: Glenn Gould. Leben und Werk [Stefanie Steiner-Grage]

Stegemann, Michael: Glenn Gould. Leben und Werk. Aktual. Neuausg. – München: Piper, 2012 [1. Aufl. 1992]. – 543 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-492-30227-2 : € 12,99 (Pb.)

Wie wohl kaum ein anderer Pianist regt der von Thomas Bernhard (in Der Untergeher, Frankfurt am Main 1983, S. 7) als „wichtigster Klaviervirtuose des Jahrhunderts“ gefeierte Kanadier Glenn Gould (1932–1982) noch heute zu wissenschaftlicher wie schöpferischer Auseinandersetzung an. Die schillernd-exzentrische Persönlichkeit des früh verstorbenen Ausnahmekünstlers, durch zahlreiche Anekdoten reichlich ausgeschmückt, wird von Michael Stegemann auf materialreicher, solider Quellenbasis wohltuend sachlich beleuchtet; den roten Faden bilden dabei die von Gould hinterlassenen (Klang)dokumente: natürlich seine Schallplatteneinspielungen, aber auch die Radiobeiträge – Moderationen, die der Gould-Biograph Otto Friedrich als „ein bißchen prätentiös und ein bißchen banal“ abqualifizierte (zitiert auf S. 196), und Hörspiele, laut Friedrich oftmals „musikkritische Seminare, in denen verschiedene Fachleute herumsaßen und Kommentare abgaben“ (vgl. Otto Friedrich, Glenn Gould, Hamburg 1994, S. 234). Gerade diesen Bereich von Glenn Goulds Schaffen wertet Stegemann deutlich auf und hebt die Originalität und Einzigartigkeit der „kontrapunktischen“ Konzeption der Hörspiele hervor: das Überlagern verschiedener Stimmen sah Gould als ein zutiefst wesenhaft musikalisches Verfahren, das – nebenbei gesagt – auch seiner Neigung zu Heteronymen entsprach: Gould liebte es, in fiktive Identitäten zu schlüpfen wie „Karlheinz Klopweisser“, „Sir Nigel Twitt-Thornwaite“ oder „Theodore Slutz“ (vgl. die Abb. vor S. 273).
Stegemann räumt in seiner diskographisch orientierten Biographie mit so manchem Vorurteil auf, etwa dass Gould die Bach’schen Goldberg-Variationen in jungen Jahren in schnellem Tempo, im reiferen Alter jedoch langsam interpretierte; vielmehr lieferte eine 1995 in Goulds Nachlass wiederaufgefundene Schallplatte mit dem 1954 entstandenen Live-Mitschnitt eines Studiokonzerts – also ein Jahr vor der legendären Aufnahme des Jahres 1955 – einen ganz verblüffenden Befund: „Diese frühe Einspielung ist nämlich in ihrer Tempowahl entschieden langsamer als die von 1955 und steht in vielem – am deutlichsten vielleicht in der Aria und ihrem da capo – der letzten Aufnahme von 1981 erstaunlich nahe!“ (S. 95).
Das Erscheinen einer (erneuten) Neuauflage der Gould-Biographie Michael Stegemanns, im Original 1992, also zum 60. Geburts- und 10. Todestag des Pianisten erschienen, ist zum Teil dem Konjunkturbetrieb des auf „Gedenkjahre“ fixierten Musiklebens geschuldet. Auch 2012 ist sozusagen ein „Gould-Jahr“ (S. 411), und die Neuausgabe enthält im Vergleich zu der vom vorangegangenen Gould-Jahr 2007 (75. Geburtstag und 25. Todestag) zwar keine neuen Titel im Literaturverzeichnis, doch immerhin ein aufschlussreiches Nachwort, in dem wichtige Neuerscheinungen (insbesondere Filme und neu entdeckte Tonaufnahmen, ja sogar ein Bühnenstück über Gould) aufgelistet sind. Dass die Faszination dieses außergewöhnlichen Künstlers auch in Zukunft nicht nachlassen wird, prognostiziert der Autor als abschließendes Fazit: „ich bin sicher, dass noch längst nicht alles von und über Gould gesagt, geschrieben und ediert ist: ‚der größte Pianist aller Zeiten’ ist lebendiger denn je!“ (S. 412). Warten wir also, was die nächsten „Gould-Jahre“ bringen werden: 2022, 2032, …

Stefanie Steiner-Grage
Karlsruhe, 11.02.2013

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