Ein umstrittener Lebensweg. Muß der Freiburger Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht neu beurteilt werden? (Freiburger Universitätsblätter ; 195) – Freiburg: Rombach, 2012. – S. 7–113
ISSN 0016-0717 (z.Zt. vergriffen)
Im Fall Eggebrecht mussten – um es juristisch auszudrücken – die Akten über ein unabschließbares schwebendes Verfahren geschlossen werden. Der publizistische Schlussstrich konnte (sollte) mit einem Heft der Freiburger Universitätsblätter gezogen werden (worden sein), in dem noch einmal Ankläger und Verteidiger gleichermaßen zu Wort kamen. Leben und musikwissenschaftliche Leistungen Hans Heinrich Eggebrechts (1919–1999) wurden zu einem „Fall“, nachdem der einschlägig mit der Aufarbeitung der Vergangenheit deutscher Musikwissenschaftler befasste Historiker Boris von Haken, dessen Recherchen an sich wünschenswert sind, auf einer Tagung der Gesellschaft für Musikforschung im Jahr 2009 trotz lückenhafter Beweislage ungehindert den Vorwurf erhob, Eggebrecht wäre nicht nur ein problematischer Musikwissenschaftler, sondern auch an Kriegsverbrechen auf der Krim beteiligt gewesen.* Mit dieser undifferenzierten Holzhammermethode sollte sich von Haken inzwischen als ernstzunehmender Historiker disqualifiziert haben. Er hat daraus die zu begrüßende Konsequenz gezogen, sein angekündigtes Buch, zu dem sein Tagungsbeitrag nur das Vorspiel sein sollte, nicht erscheinen zu lassen. Dennoch sollte von dieser verantwortungslos losgetretenen Affäre, die mehr „ein Fall von Haken“ oder „ein Fall der musikforschenden Fachgeschichte und -gesellschaft“ als „ein Fall Eggebrecht“ zu sein scheint, mehr übrig bleiben als Scham und Peinlichkeit.
Es wäre erstens interessant zu klären, warum ausgerechnet Eggebrecht, der wie kaum ein anderer die kritische Selbstreflexion des Faches und dessen quellenkritische und begriffsgeschichtliche Neuorientierung nach 1945 betrieben hatte, ein („Bauern“)Opfer solcher ihrem Wesen nach ungeheuerlichen Anschuldigungen ohne ausreichende Beweise werden konnte, warum also die maßgeblichen Funktionsträger der Zunft (bis heute) rat- und hilflos und vielleicht sogar mit einer gewissen „klammheimlichen Freude“ zuschauten, wie Eggebrechts Ruf gemordet wurde mit dem unbeweisbaren und darum hinfälligen Vorwurf, er sei ein Mörder gewesen. Mit der gleichen vatermörderischen Vehemenz, mit der Eggebrecht relativ plötzlich im Jahr 1967 mit seiner Broschüre über die Orgelbewegung seinen Mentor Wilibald Gurlitt für „schuldig“ erklärte an in der Zunft verbreiteten reaktionären Gesinnungen in der Vergangenheit, erklärte z.B. Albrecht Riethmüller seinen Mentor Eggebrecht für mit„schuldig“ an Kriegsverbrechen, indem er sich dazu hergab, von Hakens Vortrag in der von Eggebrecht jahrzehntelang herausgegebenen Zeitschrift Archiv für Musikwissenschaft abzudrucken. Alle, die irgendwelche alten Rechnungen mit Eggebrecht zu begleichen hatten, traten nun auf den Plan, um nach dem Motto „Wir haben’s doch schon immer geahnt“ weitere Vorbehalte, Verdächtigungen und Kritikpunkte über ihn auszuschütten.
Dass mit Eggebrechts Verhalten zur (und besonders zu seiner eigenen) Vergangenheit während der Nazidiktatur und dem Vernichtungskrieg der Nazis etwas nicht stimmen konnte, war dem Rezensenten schon im Jahr 1995 als enttäuschtem Zuhörer von Eggebrechts Berliner Vortrag auf dem Symposium aus Anlass des 50. Jahrestags des Kriegendes aufgefallen, als Eggebrecht aufgetragen war, über den Umgang der Musik mit der Erinnerung zu sprechen und er dort das Wort „Kriegsverbrechen“ zum ersten und einzigen Mal in Verbindung mit den Anti-Hitler-Alliierten in den Mund nahm. Ich fragte mich damals, hat der Mann etwas zu verbergen? Und tatsächlich gehörte Eggebrecht zu den großen Verschweigern, auch weil man ihn nicht befragte oder sich mit solchen Antworten wie, auf der Krim sei neben Hunger und Kälte alles ganz ruhig gewesen, zufrieden gab. Aus inzwischen zugänglichen privaten Dokumenten geht aber hervor, dass Eggebrecht an schlimmen Aktivitäten der Feldgendarmerie beteiligt war, sie entweder mitansehen musste oder gezwungenermaßen, widerwillig und mit Abscheu und späterem Selbstekel an ihrer Vorbereitung und Durchführung teilnehmen musste (es geht dabei um Verhaftungen und Massenexekutionen von Juden und auch um Beaufsichtigung sich zu Tode hungernder russischer Kriegsgefangener, wie der amerikanische Historiker Christopher R. Browning erläutert). Darüber, dass es menschenmöglich ist, “Idealist und Bestie” (Nietzsche) in einer Person zu sein (oder in Situationen zu geraten, beides sein zu müssen), lohnte es sich in der Tat nachzudenken, und bei diesem Nachdenken hilft keine moralische Überheblichkeit, schon gar nicht von Nachgeborenen, die unter ganz anderen, viel günstigeren (und vielleicht zu begünstigten) Umständen in der Lage waren und sind, eine musikwissenschaftliche Karriere zu beginnen, z.B. mit Forschungen über Verfehlungen früherer Fachkollegen.
Dass man auch mit der Darbietung von Beethoven-Sonaten vor Todeskommandos schuldig werden kann (wie Christoph Wolff findet), ist wohl wahr und darum reicht es auch nicht aus, wenn man (wie Eggebrechts Verteidiger) darauf hinweist, Eggebrecht wäre in seinem Einsatz auf der Krim mehr Künstler als Soldat gewesen oder wenn man (wie seine Angreifer) aus dieser Tatsache schließt, die musikwissenschaftichen Arbeiten eines früheren Soldaten, der u.U. an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein könnte, seien moralisch hinfällig. Dann dürfte man auch keine Flötensonaten König Friedrich des Zweiten von Preußen mehr spielen, weil dieser ein übler Kriegsherr und Expansionist gewesen ist, der Tausende seiner Untertanen für nichts als seinen Ruhm in den Tod jagte.
Irgendwo zwischen totaler Verdammung und absoluter Reinwaschung wird also letztlich ein verantwortungsbewusster Umgang mit Eggebrechts Person und seinen wissenschaftlichen Leistungen liegen müssen, dort, wo der zentrale Beitrag von Albrecht von Massow in diesem Heft angesiedelt ist. Er kann plausibel machen, dass Eggebrechts traumatische Erfahrungen als in einem kollektiven Zwangszusammenhang gedungener Täter sich auf eine spürbare Weise gerade noch in seinen späten Arbeiten zaghaft aber doch unüberhörbar äußerten, z.B., wie Elmar Budde mitteilt, in einem ungehaltenen und noch unveröffentlichten Vortrag über Thomas Bernhards Roman Der Untergeher mit dem Titel: Tödliche Musik.
Peter Sühring
Berlin, 13.01.2013/*rev. 06.02.2013