Musik und Gender. Ein Reader [Claudia Niebel]

Musik und Gender. Ein Reader / Hrsg. von Florian Heesch und Katrin Losleben. –Köln [u.a.]: Böhlau, 2012. – 313 S.: Notenbeisp. (Musik – Kultur – Gender ; 10)
ISBN 978-3-412-20785-4 : € 24,90 (kt.)

Neulich wurde in den Medien die vehemente Forderung einer Rechtsprofessorin diskutiert, das BGB gehöre längst „durchgegendert“. Von solcher Militanz sind die im Reader zusammengefassten Texte zwar meist weit entfernt, dennoch handelt es sich um Schlüsseltexte des feministischen Diskurses der Musikwissenschaft, allen voran ein Auszug aus Eva Riegers Buch Frau, Musik und Männerherrschaft (1981), das die Debatte um Frauen und ihre Stellung in der Musikhistorie eigentlich erst losgetreten hat. Nimmt man in Deutschland Eva Rieger oder im angloamerikanischen Sprachraum Sophie H. Drinker mit ihren Studien als Anknüpfungspunkt der musikwissenschaftlichen Genderforschung, ist es mittlerweile die Enkelgeneration, die den Faden aufgegriffen hat und auf entspannte Weise einen multiperspektivisch konnotierten und fachspezifisch verstetigten Diskurs pflegt, der keinem Rechtfertigungszwang mehr unterliegt. Es sind – nicht nur, aber vor allem – die Forscherinnen und Forscher aus den Genderzentren der Musikhochschulen Köln und Hannover, die zum einen als Herausgeber und Kommentatoren agieren und andererseits als Autoren der Grundlagentexte den kulturellen Kontext eigentlich erst herstellen. Die Auswahl und Kommentierung der einzelnen Studien ist überaus klug und schlüssig, dass man sich als Leser der Stringenz der Argumentation kaum entziehen kann: Die Auseinandersetzung mit der Materie erfolgt deduktiv – vom Allgemeinen zum Besonderen, ist aber vom Ansatz her induktiv, denn die Antworten auf die spezifischen Fragestellungen der Women-in-Music-Forschung suchen immer nach Validität über fachliche Schranken hinweg. Die 5 Rubriken „Musikwissenschaft und Geschlecht“, „Musikgeschichte“, „Biographik“, „Analyse und Autorschaft“ sowie „Körper und Performanz“ bauen progressiv aufeinander auf. Sie verdeutlichen einerseits die Entwicklung von der reinen Frauenforschung zur Gender-Forschung und leuchten die Thematik in all ihren soziokulturellen, politischen und gesellschaftlichen Dimensionen aus. Andererseits setzen alle diese Texte samt Präsentation methodische Wegmarken, die künftiger Beschäftigung mit der Thematik Orientierung geben. Natürlich ersetzt die Lektüre dieses Lesebuches (im besten Sinn!) nicht die Auseinandersetzung mit den vollständigen Texten; die Absicht der Autoren liegt ja in der Dokumentation von fast 30 Jahren Forschungsgeschichte. Gleichwohl haben sie mit dem Reader die Messlatte hochgehängt. Das sei kurz verdeutlicht am Beispiel eines Essays von Susanne Rode-Breymann, der 2003 als Festschrift-Beitrag erschien und das Phänomen der Musenhöfe betrachtet. Am Beispiel der Herzogin Sophie Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel und der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth untersucht die Autorin ein bislang vernachlässigtes Terrain, nämlich das der Kulturförderung und Bildung von Frauen für Frauen. Anhand von außermusikalischen Quellen wie Tagebüchern, Zeitzeugnissen, Nachrufen, Predigten, Besoldungslisten usw. öffnet sie den Blick für die spezifischen Bedingungen kulturellen Handelns von Frauen im gesellschaftlichen Kontext des 18. und 19. Jahrhunderts. Dabei werden der kulturhistorische Rahmen als allgemeine Ausgangsbedingung und die individuellen Patronagekonzepte zweier Fürstinnen verknüpft, die – gleichwohl privilegiert – als Repräsentantinnen der zweiten Reihe und als Frauen sich über gängige Vorstellungen und Konventionen aktiv handelnd hinweggesetzt haben. Der Musenhof als Ort schöpferischer Musikausübung bot diesen Frauen einen elitären Freiraum zur eigenen Musikausübung einerseits und zur Einflussnahme auf die Musikgeschichte andererseits durch Vergabe von Kompositionsaufträgen, Verpflichtung bestimmter Musiker(innen) an den Hof und Schaffung eines repräsentativen Rahmens für Aufführungen. Spannend zu lesen, die sprichwörtlichen Aha-Erlebnisse bleiben nicht aus und machen Lust auf mehr!

Claudia Niebel
Stuttgart, 08.01.2013

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