Arnbom, Marie-Theres, Kevin Clarke [u.a.]: Welt der Operette – Glamour, Stars und Showbusiness. – Wien: Brandstätter/Österreichisches Theatermuseum, 2011. – 293 S.: Abb.
ISBN 978-3-85033-581-2 : € 39,90
Die Operette ist viel besser als ihr Ruf, meinen manche, sie sei ein unentbehrlicher Gesellschaftsspiegel ihrer Zeit. Andere sind der Meinung, Operette sei verkitscher Stumpfsinn, nur von Nostalgikern gepflegt, die von einer vergangenen Zeit träumen. Die Operette ist im Lauf ihrer Geschichte entweder als pornografisch und revolutionär oder verlogen und reaktionär betrachtet worden. Was die Operette widerspiegelte und welche politischen Erwartungen diktiert wurden, ist stets vom Zeitgeist abhängig gewesen. Eine Sache ist aber sicher: diese einflussreiche Gattung ist aus der Musik- und Theatergeschichte nicht wegzudenken.
Aber was ist denn Operette? Die Antworten sind verschieden und davon abhängig, wo gerade man sich in der Musikgeschichte befindet, beim erotisch aufgeregten Beinzappeln und der frechen Gesellschaftssatire der frühen Pariser Operette, bei der gemütlichen Volkstümlichkeit der frühen Wiener Operette oder der entpolitisierten und entsexualisierten Unterhaltung für den degradierten “kleinen Mann” der Nazizeit. Allen gemeinsam ist das Couplet, das Strophen- oder das Rondolied als musikalische Stereotypen, die allesamt auf dem Prinzip der Wiederholung beruhen. Allmählich auch die Instrumentalwiederholung des Refrains als “Tanzevolution”, meint Stefan Frey, der zwei der Beiträge in diesem Buch verfasst hat, das etwa fünfzehn Essays von Spezialisten auf diesem Gebiet enthält. Es handelt sich um eine inhaltsmässig umfassendere Publikation als der etwas blasse Titel vermuten lässt. Das Buch ist in Zusammenarbeit zwischen dem Österreichischen Theatermuseum in Wien (wo gerade eine Ausstellung gezeigt worden ist), der Operettenforscherin Marie-Theres Arnbom und dem im Jahre 2006 vom Musikforscher Kevin Clarke gegründeten Operetta Research Center in Amsterdam entstanden.
Die Idee zu Buch und Ausstellung stammt von Arnbom, die den Nachlass des Schauspielers, Sängers und Regisseurs Hubert Marischka und des Musikverlegers Wilhelm Karczag bearbeitet hat. Beide waren 1901 bis 1935 legendäre Direktoren des Theaters an der Wien, während des “Silbernen Zeitalters” der Wiener Operette, einer Ära, die trotz des Namens erfolgreicher war als die frühere “Goldene Zeit” (Suppé, Strauss, Millöcker) und durch internationale Erfolge für Operetten von Komponisten wie Leo Fall, Franz Lehár, Oscar Straus, Emmerich Kálmán und anderen gekennzeichnet war.
Die Beiträge beleuchten verschiedene Aspekte der Operette als Kulturphänomen mit Schwerpunkt auf der Wiener Operette. Aber es wird auch von dem Grenzgebiet zwischen Prostitution und Unterhaltung der französischen Operette erzählt ebenso wie von der stilistisch innovativen Berliner Operette mit ihrem Gefühl für die Attribute der modernen Zeit wie z. B. Jazz. Man erfährt auch, wie die Operette zum ersten mal Wien eroberte, wie sich das nationale und moderne Element in der Habsburger-Monarchie manifestierte (mit Polka, Mazurka, Csárdás etc. als Stereotypisierung unterschiedlicher Nationalcharaktere), wie die Engländer die deutschsprachige Operette aufnahmen (wo Boccaccio der grosse Riesenerfolg war, nicht, wie man vielleicht glauben würde, Die Fledermaus).
Arnbom schreibt weiter über Marischkas Operetten-Imperium 1923 bis 1935, Gerald Piffl über die Entwickling der Fotokunst als Mittel für Marketing von Diven und Stars,und Günter Krenn über den frühen österreichischen Operettenfilm. “Showstoppers” war ein neuer Begriff, und im Streit um Sein oder Nichtsein von Dacapos in Opernfilmen wird der berühmte Tenor Jan Kiepura mit den für einen gegenwärtigen Regisseur kontroversen Worten zitiert: “Die reine Kunst, der eigentliche Kern der Kunst liegt in diesen Opernwerken nicht in der Verfolgung der Handlung, sondern in der Wiedergabe des musikalischen Gedankens des Komponisten”.
Wie es den Nazis gelungen war, die europäische Operettenkultur durch Verfolgung von jüdischen Komponisten, Librettisten, Regisseuren, Szenografen und Interpreten zu zerschlagen, vermittelt Kevin Clarke in seinem Text über die “entartete” deutsche Operette und ihre Folgen in Wien. Während Roland Dippel über die Operetten- und Musikaltradition, die nach dem Krieg in der DDR entstand und ihre besonderen Kennzeichen hatte, berichtet. Es wird auch von der Geschichte der verschiedenen Operettenbühnen in Wien erzählt, ebenso wie von der Auseinandersetzung mit dem Musikal-Genre und was für Konflikte damit ausgelöst wurden.
Nach dem Krieg war die Operette als Genre total marginalisiert. Das Musical machte sich breit und der demokratische Staat unterstützte lieber Theater und Oper. Politisch wurde in Deutschland die Kultur dezentralisiert und Berlin war nicht länger eine Kulturmetropole.
Trotzdem wurden paradoxerweise bis zum Jahre 1960 nicht weniger als 150 Operetten uraufgeführt. Unter den Komponisten konnte man noch Namen finden, die während der Nazizeit Karriere gemacht hatten: Nico Dostal, Friedrich Schröder und Fred Raymond. Aber auch neue Namen tauchten auf wie der Schweizer Paul Burkhard mit seinem Feuerwerk und dem Welthit O, mein Papa, vielleicht der letzte Publikumserfolg dieser stolzen Kunstgattung.
Für den ernsthaft Operetteninteressierten ist das vorliegende Buch mit seinem üppigen Bildmaterial eine Schatzkammer.
Henry Larsson
Stockholm, 28.10.2012