Szendy, Peter: Tubes, Hits, Ohrwürmer. Die Philosophie in der Jukebox. Aus dem Franz. v. Claudia Krebs. – Berlin: Avinus, 2012. – 113 S.
ISBN 978-3-86938-036-0 : € 16,00 (Pb.)
Eine Innenohrverkleidung aus Teflon wäre gut. So könnten sich Ohrwürmer, diese kleinen Fieslinge, nicht mehr durch Gehör- in Gehirngänge winden, um sich dort dauerhaft niederzulassen. Aber so weit ist der technologische Fortschritt noch nicht, weshalb die Menschheit auch künftig auf akustische Invasionen gefasst sein muss. Kann man sich gegen diese Eindringlinge jedoch nicht wehren, so sollte man sie zumindest verstehen. Einen solchen Versuch hat der 1966 geborene französische Philosoph und Musikwissenschaftler Peter Szendy gewagt.
Der Autor stellt die nahe liegende Frage, auf welche Weise ein beliebiges, mit musikalischen und textlichen Klischees behaftetes Lied zum individuellen Bedeutungsträger für unzählige Menschen werden kann. Ausgangspunkt für Szendys Suche nach Erkenntnis ist dabei zunächst nicht der wissenschaftliche Elfenbeinturm, sondern die Straße. Hier findet er Gassenhauer wie Boris Vians von Henri Salvador aufgenommenen Chanson Un Air Comme ça, die für den Autor einen Teil der Lösung des Rätsels bereits textlich in sich bergen: Die Melodie, die einfach so (comme ça) ins Leben tritt und durch die beiläufige Anspruchslosigkeit tief liegende Bedürfnisse erweckt, denen sich der Hörer schlichtweg nicht entziehen könne. Um dieser pointierten Auslegung einen philosophischen Überbau zu geben, bedient sich Szendy bei den Größen der Geisteswelt: Karl Marx, Walter Benjamin, Sören Kierkegaard, Immanuel Kant oder Sigmund Freud. So führt er beispielweise die Anziehungskraft der Hits auf Marx‘ Idee vom Fetischcharakter der Warenwelt zurück. Bei der Frage wiederum, auf welche Weise Banalitäten Leerstellen in der menschlichen Psyche besetzen können, hilft auf überzeugende Weise die Erzählung Die Wiederholung von Kierkegaard. Auch außerhalb des rein musikalisch-textlichen Kosmos findet der Szendy Belege für seine Theorie, wenn er das Eigenleben von Liedern und Melodien in Filmen (M von Fritz Lang, Hitchcocks Neunundreißig Stufen und Das Leben ist ein Chanson von Alain Resnais) verfolgt.
Peter Szendys klare Sprache wurde von der Übersetzerin adäquat übertragen. So ist für eine kurzweilige Lektüre gesorgt. Doch hinter manchen Überlegungen, so einfach sie auch formuliert sein mögen, bilden sich Fragezeichen. Diese betreffen nicht die aus den einzelnen Songs abgeleiteten Thesen, sondern die Übertragbarkeit auf vergleichbare Titel. Mag die Idee vom Marx’schen Warenfetischismus bei Un Air Comme ça auch plausibel wirken, so kann schon der Verweis auf Satisfaction (S. 32) nicht überzeugen. Doch sollte man sich die Zeit lassen, die Gedanken Szendys und der philosophischen Schwergewichte auf sich wirken zu lassen. Es mag gut sein, dass sich diese wie ein „Tube“ (so der von Boris Vian kreierte französische Ausdruck für einen Hit) ganz beiläufig einnisten.
Michael Stapper
München, 05.11.2012