Gut, Serge: Franz Liszt. Aus dem Franz. übers. von Inge Gut. – Sinzig: Studio, 2009. – 918 S. (Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert ; 14)
ISBN 978-3-89564-115-2 : € 68,00 (geb.)
Hamburger, Klára: Franz Liszt – Leben und Werk. – Köln [u.a.]: Böhlau, 2010. – 279 S.: 31 s/w-Abb.
ISBN 978-3-412-20581-2 : € 24,90 (geb.)
Er ist der Jubilar des Jahres 2011 – Franz Liszt (1811–1886), vor 200 Jahren geboren, der Kosmopolit schlechthin. Als Komponist und reisender Virtuose in einem war er im Wortsinn eine europäische Künstlerpersönlichkeit, die überall auf dem Kontinent zuhause war und kulturelle Einflüsse aus den unterschiedlichsten Lebensstationen aufgegriffen und kompositorisch umgesetzt hat. Liszts Wirkung auf Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts ist unbestritten, aber noch nicht ausreichend erforscht. Die Wahrnehmung seiner Person erschöpfe sich lange Zeit in der Bewunderung seiner Virtuosität, seines Charismas und seines ausschweifenden Lebenswandels. Sein als Tastenakrobatik empfundenes pianistisches Genie verstellte allzu oft den Blick auf die enorme Bedeutung Liszts als Schöpfer genialer Kompositionen (auch außerhalb seiner Paradedisziplin Klavier), als Dirigent, Pädagoge und Schriftsteller. Seit Peter Raabe (Franz Liszt: Leben und Schaffen, 1931) hat jahrzehntelang kein nennenswerter Versuch mehr stattgefunden, den Komponisten und sein Werk einer gründlichen Analyse zu unterziehen, obwohl es in der Forschung zwischenzeitlich etliche Fortschritte gegeben hat. Zusammenhänge und Hintergründe mancher Kompositionen konnten ermittelt werden, zahlreiche Werke sind inzwischen neu ediert und eingespielt worden. Seit dem Erscheinen der französischen Originalausgabe der Biografie von Serge Gut (1989), die als Standardwerk der Liszt-Forschung gilt, sind mehr als 20 Jahre vergangen.
Der Autor, Musikwissenschaftler und selbst Komponist, hat für die deutsche Erstausgabe seine Monografie überarbeitet, ergänzt und neue Erkenntnisse aus der Liszt-Forschung einfließen lassen. Das Buch gliedert sich in vier Teile, den ersten, der das Leben Liszts chronologisch in Lebensabschnitten behandelt und etwa knapp ein Drittel des Gesamtumfangs ausmacht. Der zweite Abschnitt befasst sich mit unterschiedlichen (musikwissenschaftlichen) Perspektiven: Liszt und seine Schüler, seine Wirkung auf die Komponisten Berlioz, Chopin und Wagner, seine pianistische Technik, sein Wirken als Schriftsteller, seine Mehrsprachigkeit oder sein Verhältnis zu Ungarn. Für die deutsche Ausgabe wurde das Buch um den Abschnitt des OEuvres erweitert, das von Ambivalenzen und kontroversen Aspekten gekennzeichnet ist. Schließlich wird die umfangreiche synoptische Chronologie zu Liszts Leben und Werk in einem ausführlichen Anhang vervollständigt, der die Qualität des Buches gleichzeitig auch als Nachschlagewerk dokumentiert: Ein aktualisiertes Werkverzeichnis, chronologische Übersichten, biografische Quellentexte, die Auflistung der Texte von Liszt selbst, schließlich Bibliografie und Register ermöglichen einen raschen Zugriff auf die wichtigsten Informationen. Außerdem zusammengestellt wurde eine beträchtliche Anzahl von Konzertprogrammen, die Liszt während seiner Glanzperiode spielte. Das von der Fachpresse 1989 überschwänglich gelobte Werk dürfte daher – schon auf Grund seiner Ergänzungen – auch im deutschsprachigen Raum zum Referenzwerk für die weitere Forschung werden.
Klára Hamburger, ungarische Musikhistorikerin und langjährige Generalsekretärin der ungarischen Liszt-Gesellschaft, ist ebenfalls ausgewiesene Kennerin der Materie. Ihr Anliegen ist es, den Mythos Liszt vom Ballast zu befreien und den innovativen Komponisten, phänomenalen Pianisten, den „virtuose créateur“ und Lehrer umfassend zu begreifen. Beide Autoren widmen ihre besondere Aufmerksamkeit den Ambivalenzen der Persönlichkeit Liszts, die zwischen aufopferndem Einsatz für andere Künstler und Ignoranz gegenüber ihm nahestehenden Menschen, zwischen Genialität und Banalität im kompositorischen und schriftstellerischen OEuvre oszillieren. Liszt gilt als Erfinder des Solo-Recitals, als Vordenker einer Künstler-Sozialkasse, als spiritus rector der Neudeutschen Schule, als Erneuerer des Klavierspiels und Orchesterkomponist von ausgesprochener Expressivität. Die Vielschichtigkeit der Persönlichkeit ergibt sich aus ihren Widersprüchen. Der gut verdienende Virtuose ließ es im Hinblick auf die Unterstützung seiner Kinder an nichts fehlen, andererseits versagte er als Vater und Lebenspartner völlig. Seine humanistische Gesinnung und politisches Freidenkertum gingen mit National-konservativismus (Ungarn) einher, die starke Hinwendung zum Katholizismus hinderte ihn nicht am Engagement als Freimaurer oder an einer Karriere als „Womanizer“. Der Ton der Monografien ist bewusst unparteiisch gehalten, beide empfinden sich nicht als Apologeten eines umstrittenen Komponisten, sondern loten die Bedeutung des Genies in seiner künstlerischen Gesamtpersönlichkeit aus. Gut und Hamburger sind bestrebt, so oft wie möglich zur Untermauerung ihrer Argumentation Originalzitate Liszts und seiner Zeitgenossen heranzuziehen. Sehr überzeugend wirken die psychologische Durchleuchtung und ihre Rückwirkung auf den schöpferischen Prozess. Für mich Unbekanntes wie Liszts Depressionen, seine Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, seine bisweilen einseitig religiös gedeutete Motivation, geistliche Weihen anzunehmen oder sein Verhältnis zu Agnes Street-Klindworth (auf Grund jüngster Forschungen) werden ebenso neu gedeutet wie die würdelosen Umstände seines Todes.
Hamburger referiert u. a. auf die französische Erstausgabe Guts, die sicher in Ton und Inhalt Vorbildfunktion hat. Was sie unterscheidet, ist neben dem wesentlich kleineren Umfang (es gibt nur einen kleinen Anhang) zum einen der streng chronologische Aufbau, wobei sie den einzelnen Lebensabschnitten (Kindheit, Pariser Jugendjahre, Wanderjahre, Weimar, Rom usw.) entsprechend das Werk zuordnet und in ausgewählten Kompositionen beispielhaft analysiert. Zum andern ist es die Zielgruppe, denn Hamburger hat ein breites Lesepublikum im Visier, das sie für die Einzigartigkeit Liszts sensibilisieren und auf die Musik neugierig machen möchte.
Sprachlich sind beide Titel sehr gelungen: die elegante Übersetzung Inge Guts, der Frau des Autors, und die original in Deutsch geschriebene Monografie Hamburgers nötigen Respekt ab.
Claudia Niebel
zuerst erschienen in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 32 (2011), S. 194ff.