Mahler in Leipzig / Hrsg. von Claudius Böhm. – Deutsch/englisch – Altenburg: Kamprad, 2011. – 360 S.: 100 teilw. farb. Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-930550-82-1 : € 49,90 (geb.)
Zwar war Gustav Mahler (1860–1911) nur 22 Monate zusammenhängend in Leipzig, doch diese Zeit von Juli 1886 bis Mai 1888 war eine höchst produktive Zeit mit vielen Begegnungen, u.a. mit Ferrucio Busoni, Anton Rubinstein, Richard Strauss, Cosima Wagner, Ethel Smyth und Peter Tschaikowski. Hier wurde er mit der Komposition seiner Ersten Sinfonie zum Sinfoniker, hier komponierte er seine ersten Wunderhorn-Lieder und trat zum ersten Mal mit der Bearbeitung von Webers Die drei Pintos vor eine prominente Öffentlichkeit. Aber auch mit der Beliebtheit, dem Erfolg und dem Können des fünf Jahre älteren Arthur Nikisch, dem ihm übergeordneten Ersten Kapellmeister, hatte sich der ehrgeizige Dirigent auseinanderzusetzen. Zunächst handelte er sich mit seinem leidenschaftlichen Dirigierstil vernichtende Kritiken ein, und auch das Orchester gewöhnte sich nur schwer an seine kompromisslose, heftige Probenweise: „Er war eigenwillig und rücksichtslos wie alle Genies. Man zitterte vor ihm, aber man betet ihn heimlich an.“ (S. 79).
Zu all diesem und zu allen Etappen von Mahlers Zeit in Leipzig bietet Sonja Riedel durch reiches, vielfach bisher nicht bekanntes Quellenmaterial gestützte minutiöse und anschauliche Darstellungen. Die an den Schluss gestellte Zusammenstellung aller Aufführungen, die Mahler und Arthur Nikisch während Mahlers Zeit am Leipziger Stadttheater dirigiert haben, bietet über den Einblick in das enorme Arbeitspensum beider Dirigenten hinaus auch eine Gesamtschau des Opernspielplans dieser Jahre. Steffen Held und Thomas Schinköth widmen sich dem Verhältnis von Mahler zur Leipziger Judenheit: Wagner hatte seine Geburtsstadt in seinem Pamphlet Das Judenthum in der Musik als „Judenmusikweltstadt“ angegiftet. Leipzig galt damals als Hauptstätte fanatischen Antisemitismus, doch es ist nichts darüber bekannt, ob Mahler entsprechenden Anfeindungen ausgesetzt war. Umgekehrt ist auch ein Besuch der Leipziger Synagoge durch Mahler ungewiss. Hagen Kunze geht der Tatsache nach, dass neben Mahler auch Nikisch sowie der Geiger Grünberg in Wien studiert haben. Gewichtiges tragen außerdem zwei internationale Größen der Mahler-Forschung bei: Constantin Floros stellt Mahlers Weg zum Sinfoniker dar und analysiert die semantischen Schichten der innerhalb von sechs Wochen, in einem wahren Schaffensrausch entstandenen Ersten Sinfonie, einschließlich der Bezüge zu Liszts Dante-Sinfonie (Inferno-Satz) und Wagners Parsifal (Gralsmotiv). Henry-Louis de la Grange fragt, worin das Fesselnde an Mahlers Musik besteht und zeigt, wie Mahlers Musik die „Janusköpfigkeit des menschlichen Wesens, speziell im 20. Jahrhundert“ reflektiert und sich dabei nach einer Erfüllung sehnt, die auf Erden nicht erreichbar ist.
Diese erste Monographie zum Thema „Mahler in Leipzig“ bringt einige neue Fakten zutage und lässt einige Gewissheiten der Mahler-Forschung in neuem Licht erscheinen. Alle Texte sind deutsch-englisch abgedruckt. An die 100 historische Abbildungen, in hervorragender Qualität wiedergegeben, bieten teilweise erstmals veröffentlichte Ansichten aus dem Umkreis Mahlers in Leipzig: Portraits, Historische Ansichten, Konzert- und Theaterzettel, Karikaturen und Schattenrisse, und tragen zur Qualität dieses künstlerisch gestalteten repräsentativen und informativen Bandes bei.
Hartmut Möller
Rostock, 03.04.2012