Forner, Johannes: Brahms. Ein Sommerkomponist. – 2. überarb. Aufl. – Leipzig: Faber & Faber, 2010. – 318 S.: zahlr. s/w-Abb.
ISBN 978-3-86730-042-1 : € 17,90 (kart.)
„Barhäuptig und in Hemdsärmeln, ohne Weste und Halskragen (…) rannte (er) so schnell vorwärts, als würde er von einem unsichtbaren Verfolger gejagt. Seine Augen starrten geradeaus ins Leere und leuchteten wie die eines Raubtieres (…). Nie werde ich den Eindruck der elementaren Gewalt vergessen, den der Anblick der Erscheinung in mir zurückließ.“ (S. 164) So erlebt der spätere Brahms-Biograph Max Kalbeck den Komponisten (1833–1897) bei einem morgendlichen Spaziergang im Sommer 1880. Wie gewöhnlich hat Brahms sich auch in diesem Jahr in ein Sommerdomizil zurückgezogen, um zu komponieren, diesmal nach Bad Ischl. Er braucht die Natur, die ihn inspiriert, und häufig bricht er schon im Morgengrauen zu ausgedehnten Wanderungen auf, den Kopf voller musikalischer Ideen. Was er bei seinen Gewaltmärschen im Kopf entwirft, formt er noch am Vormittag weiter aus und bringt es aufs Notenpapier. Niemand darf ihn dabei stören. An den Nachmittagen und Abenden jedoch umgibt sich der im Umgang oft schwierige, gleichwohl die Geselligkeit liebende Brahms gern mit Freunden.
Damit sie ihn besuchen können, wählt er seine Sommerdomizile stets so aus, dass sie landschaftlich reizvoll, aber auch stadtnah liegen, sei es Hamm bei Hamburg, Lichtenthal bei Baden-Baden, Rüschlikon bei Zürich, Hofstetten bei Thun oder Bad Ischl.
Aus diesen Sommeraufenthalten stammen viele bedeutende Werke, an deren Entstehung der Musikwissenschaftler und ausgewiesene Brahms-Kenner Johannes Forner seine Leser teilhaben lässt. Kenntnisreich erzählend führt er sie von Ort zu Ort, von Komposition zu Komposition. Diese beginnen mit den Händel-Variationen op. 24 aus dem Jahr 1861, reichen über Ein Deutsches Requiem op. 45, die unter größten Mühen entstandene 1. Sinfonie op. 68, über Kammermusik und Lieder bis zu den Choralvorspielen für Orgel aus dem Jahr 1896, mit denen Brahms sein kompositorisches Schaffen beendet.
Johannes Forner ist eine überzeugende Mischung aus biographischer Darstellung und Musikanalyse gelungen. Mit Stilgefühl und erzählerischem Talent lässt er seine Leser Einblick in die Schaffensprozesse des überaus selbstkritischen Komponisten nehmen. Dazu gehört auch die Beurteilung seiner Kompositionen durch so enge Freunde wie Clara Schumann, Joseph Joachim oder Elisabeth von Herzogenberg sowie die Not der Titelfindung, die Brahms häufig zu schaffen machte. „Wissen Sie einen Titel!??!!??!?“ (S. 155) fragte er seinen Freund und Verleger Fritz Simrock bei mehreren Werken. Die anspruchsvollen Werkbeschreibungen sind so lebendig und eindringlich geschrieben, dass sie zwar einigen Sachverstand verlangen, aber auch bei einem breiteren Publikum Neugier auf Brahms’ Musik wecken dürften. Mehrere Register, darunter eine ausführliche Zeittafel, ergänzen den anregenden Band.
Friedegard Hürter
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 31 (2010), S. 350