Schipperges, Thomas: Die Akte Heinrich Besseler. Musikwissenschaft und Wissenschaftspolitik in Deutschland 1924 bis 1949. – München: Strube, 2005. – 488 S. (Quellen und Studien zur Musik in Baden-Württemberg ; 7)
ISBN 3-89912-087-6 : € 35,00 (kt.)
Wie anfällig und verführbar jene von Hentschel beschriebenen bildungsbürgerlich-idealistischen Denkmuster waren, die sich im Kaiserreich, dann nach dem 1. Weltkrieg und besonders in Nazideutschland noch zuspitzten, zeigt der Fall der Musikwissenschaftlers Heinrich Besseler. Wollte man aus der Geschichte der deutschen Musikwissenschaft wirklich etwas lernen, so wäre es vielleicht auch dies, daß humanistische Bildung, die Besseler in hohem Maße besaß, weder vor dem Abgleiten in totalitäres Denken und Handeln bewahrt, noch zwangsläufig zu ihm führen muß. Und so lag es (wie auch bei allen anderen deutschen Musikprofessoren und denen, die es ab 1933 werden wollten) ganz im persönlichen Charakter und der eigenen Verantwortung Besselers, wie er sich 1933 entschied.
Nach einer Periode, in der seine wissenschaftliche Leistung überschätzt, seine Beteiligung an der Durchsetzung nationalsozialistischer Ziele im Wissenschaftsbetrieb der Jahre 1933–45 aber unterschätzt oder beschönigt wurde, folgte eine andere, in der sein eher zwiespältiges und jämmerliches Verhalten im „3. Reich“ zum Anlaß genommen wurde, seine Ansichten und Erkenntnisse pauschal in den Wind zu schlagen. Und so ist es das Verdienst dieses gut dokumentierten Bandes von Schipperges, erstens die Arbeiten Besselers aus seiner Freiburger, Göttinger und Heidelberger Zeit vor 1933 wie jene aus dessen Jenaer und Leipziger Jahren nach 1945 in ihrer Bedeutung wieder ins Licht zu rücken, allerdings wiederum mit der Tendenz, sie im Gefolge des zweifelhaften Einflusses Wilibald Gurlitts und Friedrich Ludwigs zu positiv erscheinen zu lassen. Zweitens aber stellt Schipperges nun durch sein intensiv aktenkundliches Vorgehen die Auseinandersetzung mit Besselers Verhalten in Nazi-Deutschland auf einigermaßen gesicherte Füße.
Der mit Besselers ideologischer Herkunft verknüpfte Hang zur Gemeinschaftsschwärmerei, zum Hegemonieanspruch der deutschen Musik, zu Machtgier und zu Autoritätshörigkeit einerseits wie zu autoritativem Auftreten andererseits, führte zu jener, auch nach der Lektüre von Schipperges Aktenschau rätselhaft bleibenden, sowohl komisch als auch tragisch anmutenden Doppelrolle Besselers als Mitmacher und Widerständler. Mitmachen auf der großen, sich heroisch dünkenden Linie, Widerstand im Kleinen, nicht nur, wenn die eigene Eitelkeit verletzt war, sondern auch, wenn von ihm verlangt wurde, Mindestanforderungen menschlichen Anstands, vor allem im Verhältnis zu seinen jüdischen Schülern und Kollegen, zu untergraben – so wird man wohl sein Verhalten in den Jahren der Nazi-Diktatur resümieren müssen. Ein gutes Indiz dafür, daß es mit einer einfachen Abservierung Besselers aus der Überlieferung deutscher Musikwissenschaft nicht getan wäre, ist die Tatsache, daß so ein unbestechlicher Kopf wie Jacques Handschin, der Besseler restlos durchschaut haben dürfte, mit ihm (trotz dessen nicht nur taktischen, sondern privaten, ihm gegenüber vorgebrachten Bekenntnissen zur völkischen Musikgeschichtsschreibung und zur Außenpolitik des „Führers“) zeitlebens korrespondierte und sich gerne mit ihm stritt, weil er an eine brauchbare Substanz seines Denkens glaubte.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 28 (2007), S. 198f.