Hentschel, Frank: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776–1871. – Frankfurt/Main: Campus, 2006. – 539 S.
ISBN 978-3-593-38218-0 : € 45,00 (kt.)
Diese systematisch angelegte, streng logisch argumentierende, rein historisch orientierte Untersuchung ist – vermutlich unfreiwillig – erstaunlich aktuell, denn die in ihr als unhaltbar aufgedeckten suggestiven Behauptungen zum Verlauf der europäischen Musikgeschichte finden sich bis heute in jedem rechtschaffenen Feuilleton. Hentschel wendet die Technik einer sogenannten Diskursanalyse an, die nicht so sehr das von den bürgerlichen Autoren selbst Beabsichtigte und Ausgesprochene, sondern mehr noch etwas ins Visier nimmt, was ihnen als Trägern von zum Teil unbewußten kulturellen Prägungen und Interessen unterläuft. Trotzdem ist sein Buch alles andere als eine trockene, von einem alles besserwissenden Standpunkt aus geschriebene Ideologiekritik, sondern in ihm entfaltet sich eine sehr dynamische, ins Offene führende Befragung einiger nicht überholter, sondern überkommener, noch immer virulenter Denkmuster. Viele der vom deutschen Bildungsbürgertum installierten Übergriffe auf die Kette der musikalischen Kunstwerke vorgestellt. Dabei entfernen sich die Ideologen zwar mehr oder weniger von den Komponisten und ihren Werken, aber auch nicht alle Komponisten waren von weltanschaulichen Konstrukten und idealistischen Postulaten unbehelligt.
Das Buch ist durch die unzähligen Zitate nicht nur materialreich, sondern voller origineller Gedanken, mit denen die (Selbst-)Täuschungen der Musikgeschichtsschreiber eines ganzen Jahrhunderts vor der Reichsgründung aufgedeckt werden. Die stereotypen Beschwörungen eines steten Fortschreitens zum Besseren und Höheren, die die eigene Zeit und die eigene Kultur zum Maßstab aller Dinge verklärt, ist die eine große Tendenz, die andere gipfelt in der Behauptung, daß der autonome Künstler unabhängig von den kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen zeitlos „richtige“ und „wahre“ Musik machen könne.
Der Autor polemisiert nicht, ist aber der ironisch entlarvenden Geste nicht abgeneigt. In der Hauptsache argumentiert er sauber und plädiert gegen ungerechtfertigte Normen und für einen wohl verstandenen Relativismus, der als Erkenntnisweg in der Lage wäre, Neues zu entdecken, den wirklichen Veränderungen der Musik im Laufe ihrer Geschichte ohne Ausblendungen nachzuspüren und sich von hergebrachten Vorurteilen zu lösen. Dringend wäre diese Untersuchung für die Periode nach der Reichsgründung und für das gesamte 20. Jahrhundert fortzusetzen, denn – unabhängig von der totalitären Perversion dieser Traditionslinie im „Dritten Reich“ – erwies sich diese Art von unmusikalischer Geschichtsschreibung als äußerst langlebig, bis hinein in ihre linke, vorgebliche antibürgerliche Variante. Als dokumentarische Erzählung und kritische Interpretation der deutschen Musikhistoriografie jener Phase, in der die Weichen bis heute gestellt wurden, sollte dieses Buch in jeder anspruchsvolleren Musikbibliothek zu finden sein.
Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 28 (2007), S. 198f