Leo Kestenberg. Musikpädagoge und Musiker in Berlin, Prag und Tel Aviv / Hrsg. v. Susanne Fontaine [u.a.]

Leo Kestenberg. Musikpädagoge und Musikpolitiker in Berlin, Prag und Tel Aviv / Hrsg. von Susanne Fontaine, Ulrich Mahlert, Diemar Schenk und Theda Weber-Lucks. – Freiburg: Rombach 2008. – 348 S.: Abb. (Rombach Litterae ; 144)
ISBN 978-3-7940-9461-6 : € 48,00 (kt.)

Leo Kestenberg (1882–1962) war nie Minister, sondern nur das, was man im Kaiserreich noch einen Vortragenden Rat genannt hätte, der also über die Frage, was auf einem bestimmten Gebiet zu geschehen habe, vortragen durfte. Als solcher wirkte er im preußischen Kultusministerium während der Weimarer Republik maßgebend für eine neue Musikpädagogik in ganz Deutschland, denn für deren Demokratisierung unter volksbildnerischen Gesichtspunkten wurde Kestenberg zu einem Vorbild in der ersten deutschen Republik. Er konnte sich bei dieser Arbeit auf seine früheren Erfahrungen als Pianist bei Busoni in Weimar und in der programmatischen Leitung der Volksbühne stützen; er war eine Künstlernatur mit großen pädagogischen und sozialen Neigungen und organisatorischem Talent, eine seltene Kombination.
Der kosmopolitisch eingestellte Kestenberg glaubte, dass in jedem Menschen durch Musik eine veredelte Form der Humanität geweckt werden könnte, und versuchte dies durch eine verbesserte musikalische Bildung zu erreichen. Er reaktivierte damit Idealvorstellungen früherer preußischer Reformer wie Zelter und Wilhelm v. Humboldt. Er entwickelte dazu nicht nur Konzepte für den Musikunterricht an den Schulen, sondern auch für ein allgemeines modernes Musikleben. Den Nazis, die ihn 1933 sofort entließen und vor denen er fliehen musste, war er besonders verhasst, weil er all das gefördert hatte, was sie ausmerzen wollten: eine über den nationalen Horizont hinausgehende Musikpraxis, die sich an den weitest fortgeschrittenen Erfahrungen auf dem Gebiet der Tonkunst orientierte. So hatte er nach Busonis Tod dafür gesorgt, dass Schönberg dessen Nachfolger an der Preußischen Akademie der Künste werden konnte und dort neben Pfitzner und Georg Schumann eine Kompositionsklasse leiten durfte (was für eine Ausgeglichenheit zwischen Traditionalisten und Avantgardisten!). Ernahm alle diese Erfahrungen mit auf die Stationen seiner Emigration, nach Prag (wo er eine Gesellschaft für Musikerziehung gründete, unterrichtete und publizierte) und nach Tel Aviv, wo er nochmals heimisch werden konnte und wieder religiös wurde.
Dieses Buch versammelt die Vorträge eines Berliner Symposiums, das im Dezember 2005 an der Berliner Universität der Künste stattfand, und gibt die Referate wieder, die sich mit den drei großen Lebensstationen Berlin, Prag, Tel Aviv und den Tätigkeitsfeldern Kestenbergs beschäftigen: Volksbühne, Jugendmusikbewegung, Musikpädagogik an der Berliner Musikhochschule, Prager Gesellschaft für Musikerziehung und Musikerziehung im jungen Staat Israel. Über das letzte Thema sprachen aus persönlicher Erfahrung zwei israelische Musikologen, die Schüler Kestenbergs in Tel Aviv waren und das Visionäre, Utopische und, wenn man so will, Ideologische an Kestenbergs Ansichten beleuchteten.
Dieser Band ist eine sehr instruktive Einführung in Kestenberg und seine postulierte Aktualität und eine Vorbereitung auf die in vier Bänden geplante Ausgabe seiner Schriften, die im gleichen Verlag erscheinen soll.

Peter Sühring
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 260f.

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