Galliat, Simone: Musiktheater im Umbruch. Studien zu den opere semiserie Ferdinando Paërs. – Kassel: Bosse, 2009. – 361 S.: zahlr. Notenbsp. u. Tab. (Kölner Beiträge zur Musikwissenschaft ; 11)
ISBN 978-3-7649-2711-0 : € 39,95 (brosch.)
Für gewöhnlich kennt man Ferdinando Paër (1771–1839) als den neben Simon Mayr wichtigsten Komponisten des Fidelio-Stoffes, bevor Beethoven mit Leonore (1805) und den beiden späteren Fassungen (1806 und 1816) seine Vorgänger vollständig verdrängt hat. Erst in letzter Zeit befasst sich die Forschung wieder mit Paër, wobei der 2004 veröffentlichte erste Teil des Werkverzeichnisses (Opern) von Wolfram Enßlin einen Meilenstein bildet. Für ihre materialreiche Monografie wertet Galliat nun die Spielpläne von Wien, Dresden und Frankfurt am Main zwischen 1798 und 1810 aus und kann anhand der daraus gewonnenen Statistiken nachweisen, dass Paër tatsächlich einer der populärsten Opernkomponisten seiner Zeit gewesen ist. Es zeigt sich außerdem, dass sein damaliger Erfolg vor allem auf den „opere semiserie“ beruhte, weshalb sich Galliat des weiteren diesem Operntypus und dessen besonderer Dramaturgie widmet. Wesentliche Punkte sind dabei die zunehmende Bedeutung von Nebenfiguren (sog. „pertichini“) in der Handlung sowie Schauplätze bzw. Themen, die bisher im Musiktheater als nicht „bühnenfähig“ angesehen wurden: Hatten bisher mythologische und geschichtliche Szenerien die Opern dominiert, so werden diese Sujets allmählich durch einen (allerdings immer noch stark stilisierten) Realismus ersetzt; erst jetzt ist es möglich, dass etwa Paërs Agnese in einem der damals als „Irrenanstalt“ bezeichneten Spitäler angesiedelt ist und dass Wahnsinn als Lebensäußerung überhaupt thematisiert werden kann. Damit einher gehen aber auch musikdramatische Veränderungen wie beispielsweise die Gestaltung der Aktfinali, bei denen die traditionellen, gattungstypisch reglementierten Kompositionsprinzipien nach und nach verloren gehen, oder die zunehmende Verlagerung der Handlung von den Rezitativen in die durchkomponierten Formen. Galliat erläutert ihre Forschungsergebnisse sehr detailliert und veranschaulicht sie dankenswerterweise mit zahlreichen Notenbeispielen aus den nicht so leicht zugänglichen Werken. Ein etwas hartes Brot sind dagegen die vielen, rund achtzig Seiten umfassenden Tabellen. Hier muss man sich viel Zeit nehmen und wird – will man deren Informationswert ganz erfassen – ohne zusätzliche eigene Notizen kaum auskommen. Gleichwohl ist die Abhandlung für jeden, der sich mit diesem Opernrepertoire befassen möchte, ein Gewinn. Nicht nur speziell über Paër ist viel zu erfahren, sondern auch über ein wichtiges und ziemlich vergessenes Kapitel der europäischen Operngeschichte.
Georg Günther
Zuerst veröffentlicht in FORUM MUSIKBIBLIOTHEK 30 (2009), S. 259