Alexander Gurdon: Von Mahler bis Moskau. Der Dirigent und Komponist Oskar Fried. – Berlin: Lit, 2022. – 678 S.: Abb., Notenbsp., Tab. (Dortmunder Schriften zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 5)
ISBN 978-3-643-15263-3 : 69,90 € (kart.; auch als eBook)
Künstlermonografien sind immer ein Balanceakt zwischen Leben und Schaffen, zwischen Konzentration auf die eine Person und die Weitung auf die Zeit- und Weltgeschichte, auch in kultureller Hinsicht. Doktorarbeiten, die zumeist zu den ersten selbstständigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen eines Autors zählen, sind für diesen nicht selten eine ganz besondere Herausforderung, und häufig ist zu hören, dass dieser schon mit etwas größerem zeitlichen Abstand mit dem vorgelegten Ergebnis nicht mehr ganz zufrieden ist (so war es nur vernünftig, zwischen Einreichung der Dissertation an der Technischen Universität Dortmund 2014 und der Veröffentlichung einige Zeit vergehen zu lassen).
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit einem Dirigenten und Komponisten. Solche multiplen Berufsbilder sind häufig, und auch hier gilt es die rechte Balance zu finden. Doch hierfür bedarf es auch einer hinreichenden Quellensituation, und schon wenn eine Säule wegbröckelt, kann es zu einer Schieflage kommen.
Alexander Gurdons Arbeit ist zunächst einmal eine Biografie, gleichzeitig in der Konzentration auf die eine Person und die Weitung auf die Zeit- und Weltgeschichte. Oskar Fried ist eine hierfür äußerst dankbare Figur. 1871 in Berlin als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren, musste Fried sich schon früh aufgrund der familiären materiellen Grundlage um sein Auskommen bemühen. Über die familiäre Situation hat Gurdon merkwürdig wenig in Erfahrung bringen können, nicht warum sie verarmte, nicht wo die Familie lebte. Bis 1880 besuchte Oskar Fried das Gymnasium, erhielt Instrumentalunterricht zunächst in der Familie. Als Neunjähriger musste er seine Schulausbildung abbrechen, und als Mitglied unterschiedlicher Musikgruppen zog der Junge durch die Gegend, um zum Familieneinkommen beizusteuern (man denkt unwillkürlich an Fritz und Adolf Busch, die aber offenbar in einer etwas weniger prekären Lage aufwachsen konnten und deren Auftritte strategischer geplant erfolgen konnten).
Als mittlerweile recht erfolgreicher Orchesterhornist erreichte Oskar Fried Frankfurt am Main und konnte hier seine ersten Erfahrungen auch als Dirigent machen. Als Hornist konnte er dem Orchester der Frankfurter Oper beitreten und erhielt von 1892 bis 1894 Unterricht bei Engelbert Humperdinck. Nach einem kurzen Aufenthalt als Orchestermusiker in Düsseldorf wandte er sich nach München (sein Lehrer wurde Ludwig Thuille, ein Mentor Hermann Levi) und nahm auch in Paris Fühlung mit den Künstlerkreisen des fin de siècle auf. 1898 kehrte er nach Berlin zurück und profilierte sich nunmehr auch als Komponist groß angelegter Orchester- und Chororchesterwerke. Er baute ein beeindruckendes Netzwerk auf und profilierte sich auch als Dirigent bedeutender zeitgenössischer Musik – heute ist er besonders bekannt als Mahler-Dirigent.
Für Fried bedeutete der Erste Weltkrieg eine bedeutende Zäsur – er, der sozialistische Jude, flüchtete 1917 in die Schweiz, streckte die Fühler nach der neu gegründeten Sowjetunion aus, gastierte in Europa und Übersee und flüchtete 1933 endgültig, zunächst nach Paris, dann nach Tiflis und schließlich Moskau. Seit 1937 war er schwer krank und starb am 5. Juli 1941.
Die nicht recht festzuhaltende geografische Verortung eines Künstlers, das Fehlen einer echten „Heimat“ bedeutet häufig nicht zuletzt auch rezeptionshistorisch ein besonderes Problem – einerseits gehört er nirgendwo recht hin, hat andererseits eine immense Fülle an bedeutenden Begegnungen und Kontakten geknüpft, die nachzuverfolgen eine Mammutaufgabe ist und gerne einmal ein ganzes Forscherleben beansprucht. Frieds Fühlung zu Humperdinck und Thuille, zu Bierbaum und Dehmel, zu Harry Graf Kessler und Paul Cassirer, zu Ferruccio Busoni, Max Reinhardt, Otto Klemperer und Arnold Schönberg, sein Einsatz für Mahler, Delius oder Skrjabin – überall tun sich kleine Kosmen auf, die erkundet werden wollen. Und hier beginnen die Probleme der Realisierung der oben angedeuteten Ziele einer Künstlermonografie. Die Lücken der Quellenüberlieferung nennt Gurdon immer wieder, wenn dies in seinen Augen seiner Argumentation unmittelbar notwendig scheint. Dass man an manchen Stellen eine Fußnote oder einen relativierenden Hinweis auf die Zuverlässigkeit einer zitierten Quelle vermisst, die über Referiertes genauer Auskunft gibt, ist nur natürlich und ergibt sich aus dem speziellen Leserinteresse. Dennoch hat der Rezensent den Eindruck, dass die Musik anderer als Frieds und Mahlers verhältnismäßig unproportioniert gering behandelt wird – ein Register sämtlicher Kompositionen, also jener Frieds und aller anderen, hätte dem während des Lektoratsprozesses abhelfen können. Umgekehrt weist die Arbeit unnötige Längen auf, bedingt durch Originalquellen, von denen sich Gurdon in der Veröffentlichungsfassung nicht trennen konnte.
Umgekehrt sind die Quellennachweise zu den Anhängen von äußerst unterschiedlicher Qualität. Während bei Manuskriptquellen häufig Bibliothekskürzel (warum? kaum Platzgewinn) genutzt werden, fehlen beim Abbildungsregister (die meisten Abbildungen sind in hervorragendster Qualität gedruckt) die Herkunftsnachweise. Dem Werkverzeichnis hätte eine übersichtlichere Präsentation gutgetan; das Verzeichnis der von Fried bekannten Briefe war sicher schon zum Zeitpunkt der Drucklegung überholt. Das Verzeichnis der von Fried bekannten Konzerte ist ein unschätzbares Dokument und hätte weiter vorn ins Buch gehört. Die im Anhang veröffentlichten ausgewählten Schriften über oder von Fried scheinen etwas wahllos zusammengestellt, wenn sie auch wichtige Aspekte vertiefen (aber das trifft auf diverse nicht nachgedruckte Texte sicher auch zu). Am problematischsten dürfte die Diskografie sein – die Konsultation von Rundfunkarchiven hätten Frieds Tätigkeit als Dirigent noch viel nachvollziehbarer werden lassen.
Diese kleinen Abstriche beeinträchtigen aber kaum den nachhaltigen Wert dieser beachtenswerten und beachtlichen, viele Facetten aufreißenden Musikermonografie.
Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 29.06.2023