Jens Balzer: Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache. – Berlin: Dudenverlag, 2022. – 224 S.
ISBN 978-3-411-75669-8 : € 20,00 (kart./geb.)
Schmalz und Rebellion. Zwei Begriffe wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten und die man auf den ersten Blick wohl kaum unter einen Hut bekommt. Doch sieht man den Titel des Buches auf dem orangefarbenen Cover mit der aus anderen Zusammenhängen bekannten und hervorstechenden Aufschrift “Duden” und die geriffelte schwarze Schallplatte in der Mitte prangen, wird sofort klar, worum es geht: um deutschen Pop und seine Sprache von den 1950ern bis heute. Wie der Titel strotzt auch der Inhalt nur so von Gegensätzen. Halbwegs chronologisch aufbereitet rauscht der Autor Jens Balzer durch die 18 Kapitel plus einer Zugabe mit dem verheißungsvollen Titel “aus der Pussy”, wo es um kulturelle Aneignung und die Identitätsfrage in den 2020er Jahre geht. Doch dazu später mehr.
Die gesamte Popkultur auf rund 200 Seiten? Als Leser*in fragt man sich zu Beginn schon, wie dieses gewagte Unterfangen gelingen kann. Doch Balzer zeigt neben den Gegensätzen auch, was schon immer zusammengehörte, nämlich Pop und Politik. Die Spannweite ist dabei groß und reicht von der Schlagerschnulze bis zum Gangsta Rap. Die einzelnen Songtexte werden dabei recht eingehend zitiert, auch weniger bekannte. Die Auswahl und Thesen sind natürlich in gewisser Weise auch persönlichen Vorlieben geschuldet und bieten gleichzeitig auch immer wieder Einblicke in die Welt eines Fachmanns.
Der Fachmann… Das ist Jens Balzer, seines Zeichens Musikjournalist und Autor im Feuilleton der ZEIT sowie Kolumnist für Radio Eins und den Rolling Stone. Er schreibt seit Anfang der 1990er Jahre über Popkultur, Politik und Philosophie. Und das merkt man auch.
Was schon seit Mitte der 1970er Jahre auffällt: Die Popmusik hatte für viele Menschen durch die richtigen Songs einen wesentlichen Anteil zur Annäherung zwischen Ost und West. Manch einer behauptet sogar noch heute, dass der Austausch von Musiker*innen und das Geschehen auf Berliner Konzertbühnen einen entscheidenden Beitrag zum Fall der Berliner Mauer 1989 leistete. Beispielhaft für den damaligen aufkommenden Trend war Nina Hagen. „Vielleicht war dies die erstaunlichste Wendung in der deutschsprachigen Popmusik der siebziger Jahre – dass die von Zensur und Unterdrückung geprägte Kultur der DDR eine Künstlerin hervorbrachte, die nach ihrer Übersiedelung in den Westen alle dort gängigen Ausdrucksformen von sexueller Rebellion übertraf. Eine ganze Generation von Künstlerinnen nahm sich Nina Hagen zum Vorbild”, schreibt Jens Balzer in seinem Buch. Als Tochter der Schauspielerin Eva-Maria Hagen und Stieftochter des politischen Sängers Wolf Biermann, den sie unterstützte und dem sie in den Westen folgte, stand sie später auch unter dem Einfluss des englischen Punks und wurde zur Ikone der New-Wave-Bewegung. Aus dieser Zeit stammt übrigens auch Nina Hagens Lied Du hast den Farbfilm vergessen, das auf Wunsch der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin beim Großen Zapfenstreich zu ihrer Verabschiedung dargeboten wurde; Merkel bezeichnete diesen Song als „Highlight ihrer Jugend”. (RND/epd, 02.12.2021).
Jens Balzer führt in Schmalz und Rebellion eine umfassende Themenanalyse des deutschen Schlagers und Pops nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch. Skurriles, wie Ninas Farbfilm-Song, trifft Schlagerschnulze von Caterina Valente oder Freddy Quinn. In Kapitel 8 wird es dann aber unter dem Titel Wir sind die Roboter und dem Krautrock der 70er Jahre futuristisch und kosmopolitisch. Fehlen dürfen da natürlich nicht die Maschinenmusik von Kraftwerk, die mit ihrer Musik sogar internationalen Ruhm erlangten, sowie die Einstürzenden Neubauten mit ihrem apokalyptischen Nihilismus-Denken, die in der Woche vor der Bonner Friedensdemo im Oktober 1981 ihr Debütalbum mit dem bezeichnenden Namen Kollaps herausbrachten. Apropos Alben und Songs… Balzer greift sie exemplarisch heraus, interpretiert Strophen und Refrains und erläutert die epochal herrschenden Themen. Wer als Gedächtnisstütze einen Bandnamen nachschlagen möchte, kann hierfür u.a. das durchaus nützliche Interpreten-Register ab Seite 219 nutzen.
Insgesamt reicht die Zeitspanne, die das gesamte Buch umfasst, vom Beginn der Nachkriegszeit mit ihren Schlagern bis in die moderne Popmusik, die nur schwer zu beschreiben ist. Balzer nimmt dabei auch die Besonderheiten der einzelnen Kulturen unter die Lupe, die mancherorts nur angeeignet wurden. In Deutschland gehört übrigens fast immer auch die Verwendung einer fremden Sprache dazu. „Die deutschsprachige Musik der Gegenwart handelt – wie anhand verschiedener Beispiele gezeigt wird – oft von Herkunft und macht dies auch hörbar: durch die Vermischung des Hochdeutschen mit Dialekten oder Sozio- und Ethnolekten, in denen die Vielstimmigkeit regionaler deutscher Kulturtraditionen ebenso zur Erscheinung gelangt wie die Diversität einer von globalen Migrationsbewegungen gezeichneten Gesellschaft” (S. 200), so Balzer. Soll heißen: Cooler, glamouröser Pop wird nicht auf Deutsch gesungen, sondern auf Englisch!
Schmalz und Rebellion ist ein Buch, das beispielhaft eine Popgeschichte schreibt, die komplizierte gesellschaftliche Verhältnisse genau darstellt. Aus diesem Grund gehören Pop und Politik immer zusammen. Wo wir wieder beim Anfang wären… Man entdeckt durchaus spannende Bands, die man vorher kaum oder gar nicht kannte. Oder wussten Sie, wer Rapperin Nashi44 ist oder welche Musik sie macht? Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Playlist, die per QR Code auf Spotify abrufbar ist. Es ist einfach schön, die Titel parallel auch zu hören, weil damit die erwähnten Themen ergänzt und abgerundet werden. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass durch das Buch eine neue Sichtweise auf die Hintergründe der Texte eröffnet wird. Denn Schmalz und Rebellion ist nicht nur etwas für Musik-Liebhaber. Das Buch bietet einen sehr gut ausgewählten Querschnitt durch die deutschsprachige Musikgeschichte des Pops. Es kann sowohl Neues eröffnen als auch Vergessenes wieder in Erinnerung bringen.
Leider ein bisschen kurz geraten ist das Kapitel über deutschen Hip Hop in den 1990er Jahren. Erwähnt werden beispielsweise Girlbands, wie „Tic Tac Toe”, die ein Casting-Konstrukt der Musikindustrie waren, aber nicht handgemachte Gruppen, wie z.B. Freundeskreis. Ebenso hätten auch ein paar Bilder der Publikation gutgetan. Aber wo anfangen und wo aufhören? Wen reinnehmen und wen rauslassen? Insofern ist die Wahl, gar keine Bilder reinzunehmen, dann doch zu verstehen. Und am Ende ist es ja auch Sache des Lesers / der Leserin, die vielen Stationen der musikalischen Reise mit Bildern im Kopf aufzufüllen, oder wie es 2012 der Rapper Sido ausdrückte: „In einem schwarzen Fotoalbum mit ‘nem silbernen Knopf, bewahr’ ich alle diese Bilder im Kopf…”
Rebecca Berg
Bochum, 18.02.2023