Martin Zenck und Volker Rülke: Kontroverse Wege der Moderne. Der exilierte Komponist und Pianist Eduard Steuermann in seinen Briefen. Korrespondenz mit Arnold Schönberg, Theodor W. Adorno und René Leibowitz – München: edition text + kritik, 2022. – 730 S.: s/w-Abb., Notenbsp., 1 Audio-CD.
ISBN 978-3-96707-184-9 : € 75,00 (geb.; auch als eBook)
Das Schweigen, das über Eduard Steuermann (1892-1964) verhängt war, über den Pianisten des Schönbergkreises, über den Komponisten, der er auch gewesen ist und sein wollte – dieses ebenso lange wie Fragen auslösende Schweigen hat edition text + kritik jüngst mit gleich zwei voluminösen Steuermann-Produktionen für beendet erklärt. Nach dem von Lars E. Laubhold herausgegebenen 500-Seiten-Band zum Musiker und Virtuosen, basierend auf einer Tagung der Anton Bruckner Privatuniversität Linz (rez. auf info-netz-musik), hat der Verlag binnen Jahresfrist noch einmal nachgelegt, um einem 2018 an der Universität Würzburg gestarteten DFG-Forschungsprojekt zu einem fulminanten Abschluss zu verhelfen. Zwei Bücher über eine faszinierende Persönlichkeit der Musik-Moderne binnen Jahresfrist in ein- und demselben Verlag – in einem solchen Fall vermutet man gute Gründe. Wie die beiden Bände konzeptionell zusammenhängen, ob sie überhaupt zusammenhängen, inwiefern sie koinzidieren, Schwerpunkte ausbilden, darüber geben sich die jeweiligen Vorworte allerdings überraschenderweise wortkarg. Es scheint, als ob eher von einem Nebeneinander auszugehen ist. Der blinde Fleck eines ansonsten aufmerksamen Lektorats.
Apropos Lektüre. Was vorliegt, ist eine Briefedition, in die man sich verbeißen kann, verhilft das armdicke Füllhorn doch zu faszinierenden Inneneinsichten, Entdeckungen. Materialreichtum, Bezüge, Querverweise, Tiefe der Darstellung motivieren zum steten Hin- und Herspringen, Vor- und Zurückschlagen. Arnold Schönberg, Theodor W. Adorno, René Leibowitz im Spiegel ihrer Korrespondenz mit Eduard Steuermann. 400 Seiten Briefe, 200 Seiten Herausgeber-Kommentare, 100 Seiten Anhang. Terminus a quo das Jahr 1912 als Steuermann und Schönberg sich erstmals begegnen, Terminus ad quem das Sterbejahr Steuermanns 1964. Eine Edition, die Brisanz hat, die mit Novitäten aufwartet, die neue Fragen aufwirft. Was will man mehr. Ein Dokumentations- und Kommentarband, der insbesondere jene Leser anspricht, mit Nektar versorgt, die der herkömmlichen Neue Musik-Geschichtsschreibung schon immer misstraut haben. Spürbar, auch über die Langstreckendistanz von 700 Seiten, die Sorgfalt einerseits, die Leidenschaft andererseits, mit der hier formuliert, konzipiert wird. Dem Herausgeber-Duo Martin Zenck/Volker Rülke und seiner Mitarbeiterin Gwendolin Koch ist ein großer Wurf gelungen. Dass bei so viel Licht auch die Verschattungen ins Auge springen, liegt auf der Hand.
Was tatsächlich anfängt bei der Wahl des Haupttitels. Kontroverse Wege der Moderne klingt wie ein Formelkompromiss, entlehnt aus dem Baukasten des Wissenschaftsjargons, der die in der Edition überreich aufgedeckten Brüche und Widersprüche nur unzureichend abbildet, ja, tendenziell verschleiert. Eduard Steuermann hätte sich darin kaum wiedererkannt. Seine Kritik an den kompositorischen Entwicklungen wie sie die Internationalen Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik spiegeln, an denen er als Dozent insgesamt vier Mal teilnimmt, ist unüberhörbar. An einer Stelle spricht er sogar von den „Musikmördern”; sein Briefpartner Adorno von den „Paranoikern”. Für beide ist Darmstadt voller Irrwege, Sackgassen. Dementgegen scheinen die Herausgeber vor den offen ausgebreiteten Unvereinbarkeiten zuweilen zurückzuscheuen wie aus Angst vor der eigenen Courage. Schönberg etwa wird konsequent verteidigt, obwohl dessen Ignoranz gegenüber dem Komponisten Eduard Steuermann (schon im ersten Brief erwähnt dieser sein kompositorisches Interesse), geradezu skandalös zu nennen ist. Während der gesamten Korrespondenz zwischen den Jahren 1912 und 1951 kommt Schönberg kein einziges Mal auf seinen auch komponierenden Pianisten zu sprechen. Steuermann wird instrumentalisiert. Steuermann hat zu bleiben, was Steuermann ist, ein ausübender Musiker. Die Frage drängt sich auf, inwiefern dieses Ausblenden womöglich prima causa unserer Steuermann-Unkenntnis ist?
Die Herausgeber gehen darüber hinweg, ignorieren die darin liegende Härte. Ihr Argument: Da die Briefe von Schönberg an Steuermann nur unzureichend überliefert seien, könne man daraus kein grundsätzliches Desinteresse folgern. Was ebenso vorschnell wie sachfremd ist. Wäre Schönberg jemals auf den Komponisten Steuermann eingegangen, hätte der Antwortbrief dies klar gespiegelt, was aber in keinem einzigen Schreiben dieser über vier Jahrzehnte währenden Korrespondenz zum Ausdruck kommt. Weswegen sich letztlich Pathologisches aufdrängt. Reicht der neurotische Bannfluch Schönbergs gegen alle und jeden, die sich nicht unterwerfen, womöglich bis hinein in die Gegenwart einer die Verhältnisse kommentierenden Musikwissenschaft? Dass ein genialer Komponist, der Schönberg war, zugleich ein notorischer Egozentriker mit paranoiden Anfällen gewesen ist – an dieser Erkenntnis kommt man bei der Lektüre dieser Edition nicht länger vorbei. Nach Schönbergs Tod werden die Kompositionen Steuermanns „freier”, konstatieren die Herausgeber. Wen wundert’s?
Wenn dieser großen Untersuchung zu einer zentralen Schnittstelle der Neuen Musik gleichwohl Exzellenz zu attestieren ist, dann hat dies zu tun mit der glasklaren Fragestellung des auslösenden DFG-Projekttitels, der in der Folge, dankenswerterweise, zum Untertitel des Buches geworden ist. Der exilierte Komponist und Pianist Eduard Steuermann in seinen Briefen. Bemerkenswert daran ist zweierlei. Perspektivisch ist es der Komponist Eduard Steuermann, der nach vorn rückt. Was überfällig ist. Zu Lebzeiten liegt keine einzige Note gedruckt vor. Dabei ist das Oeuvre mit Klavier- und Orchesterwerken, mit Kammermusik, Liedern und Bearbeitungen keineswegs klein zu nennen. Gleichwohl: In der Aufführungspraxis ist ein Komponist Steuermann nicht präsent. Wir kennen ihn nicht. Dass sich darauf nur angemessen reagieren lässt, indem man Präsenz herstellt, gehört mit zur Umsicht der Herausgeber, die dem Band konsequenterweise eine CD-Beilage verordnet haben: Fünf Steuermann-Klavierkompositionen, 70 Minuten Musik eines unbekannten Komponisten, eingespielt von Klangforum Heidelberg - Pianist J. Marc Reichow. Ein Surplus, mit dem wir zurückspringen können in den Grund, ins Hören.
Das andere Verdienst dieser umfangreich kommentierten Edition: das Künstlerleben Eduard Steuermann wird entfaltet aus der Erfahrung des Exils. Eine Erfahrung, die Steuermann mit seinen Briefpartnern Schönberg, Adorno, Leibowitz teilt. Indem die Herausgeber darauf den Schwerpunkt legen, betreten sie Fruchtland. Dass es, ein Blick in die jüngere Entwicklung belegt es, in der Wissenschaft, in der Kunst, im Fachjournalismus nicht langweilig geworden ist, liegt an dieser Thematik, an der Schärfung, die davon ausgeht. Wer Exil sagt, gibt zu Protokoll, dass er Geschichte ernst nimmt, dass er die Erklärung von Kunst, von künstlerischem Fortschritt aus sich selbst als idealistisches Selbstmissverständnis durchschaut hat. Zudem macht der Band klar: Exil-Thematik, Exil-Forschung ist etwas völlig anderes als das Einerlei einer materialaufhäufenden Musikwissenschaft. Was dieser Band lehrt, ist, dass die Erfahrung des Exils von der Entwicklung der Kunstmusik nach 1945 nicht zu trennen ist. Indem umgekehrt eine komplette Avantgarde dieses Thema ausblendet, schlägt sie eine Richtung ein, an deren Eindimensionalität wir bis heute laborieren.
Dabei sind die exilierten Künstler, sind die Überlebenden der Shoa (die von den Avantgardisten zu keinem Zeitpunkt als solche verstanden, angesprochen werden) keineswegs ein Herz und eine Seele. Die Korrespondenzen dokumentieren Abbrüche, interne Widersprüche zuhauf: Steuermann und Adorno bleiben trotz ihrer „Freundschaft” lebenslang beim förmlichen Sie, Steuermann, wiewohl von Schönberg so rauh angefasst, misstraut Leibowitz, wenn es um Schönberg geht, findet umgekehrt zeitlebens zu keinem Verhalten auf Augenhöhe gegenüber dem Meister. Zu groß sind Bewunderung, Dankbarkeit, „Ergebenheit”. Dann dieses biographische Detail, das die Herausgeber eher en passant abhandeln. Ein Schock, wenn man lesen muss, dass Schönberg im Sommer 1924 tatsächlich ein Verhältnis mit Steuermanns erster Ehefrau Hilda beginnt. In der Korrespondenz bleibt dieser ungeheuerliche Vorfall ohne Echo. Doch, fragt man sich, wie kann das sein?
Es ist die künstlerische Schönberg-Erfahrung, die alles überdeckt, zudeckt. Schon der Anfang stark. 1912 wird der 20jährige Steuermann von Ferruccio Busoni, in dessen Berliner Klavierklasse er Meisterschüler ist, Schönberg vorgestellt, um sogleich in die Uraufführung des Pierrot Lunaire hineingerissen zu werden, womit Steuermann Grundsätze und Maßstäbe der Aufführungspraxis von innen heraus kennenlernt, folgerichtig verinnerlicht. Ein Umstand, der ihm unbestrittene Kompetenz sichert: im us-amerikanischen Exil als Dozent an der Juilliard School, bei den Kursen am Black Mountain College ebenso wie später bei den Darmstädter Ferienkursen. Zugleich liegt darin aber auch der Grund für das elementare Nicht-Verstehen, für die offiziell zwar nie ausgesprochene, aber von Anfang an bestehende Differenz zu den Darmstädtern, die jede Tradition verneinen. Boulez gibt das Motto aus: Schönberg est mort. Die bittere Erfahrung, die Steuermann, die Adorno, die Leibowitz machen müssen, ist diese: Für sie, die das Werden der Neuen Musik hautnah miterlebt, mitgestaltet haben, für sie, für die Alten, ist in Darmstadt kein Platz. Für die Jungen sind sie die Welt von gestern. Auch diese Bitternis geht aus der Lektüre dieses faszinierenden Bandes hervor.
Georg Beck
Düsseldorf, 27.05.2023