Reinhard Goebel: Johann Sebastian Bachs „Brandenburgische Konzerte“. – Köln: Dohr, 2023. – 128 S.: Abb, Notenbsp., mit zwei Audio-CDs (Einspielung 1987)
ISBN 978-3-86846-173-2 : € 39,80
Eigentlich haben die von Johann Sebastian Bach im Jahreswechsel 1720/21 in Köthen komponierten Concerti grossi (oder in der vom Komponisten bevorzugten französischen Bezeichnung „Concerts avec plusieurs instruments“) mit dem Land Brandenburg wohl kaum etwas zu tun. Vielleicht spielte beim Komponieren der Hintergedanke eine nebensächliche Rolle, dass es möglich wäre, diese zwar mit einer im Vagen bleibenden Beauftragung, aber hauptsächlich aus innerem Drang geschriebenen Werke einer fürstlichen Person zwecks Erlangung einer gewissen Publizität oder Aufführungsmöglichkeit zu widmen. Darum ist es auch konsequent, den ebenso fest eingebürgerten wie höchst fragwürdigen Titel „Brandenburgische Konzerte“ für diese Serie von sechs Instrumentalkonzerten Bachs zunächst auf dem Titelblatt des hier vorgestellten Buches in Anführungsstriche zu setzen. Leider wird diese Anmutung nicht durchgehalten, sondern im weiteren Verlauf der Darstellung so getan, als hätten diese Konzerte tatsächlich etwas mit „Brandenburg in Preußen“ und der dort herrschenden Dynastie nähers zu schaffen. Hieraus spricht ein falsches Verständnis oder eine verfehlte, sprich tendenziöse Anwendung von Musikanalyse mit Rücksicht auf kulturgeschichtliche Hintergründe.
Keiner weiß bis heute zu sagen ‑ auch Reinhard Goebel nicht ‑ was Bach dazu veranlasste, diese Konzerte dem brandenburgischen Markgrafen Christian Ludwig zu dedizieren. Alle Begründungen dafür sind bis heute Fiktionen und Spekulationen, in denen man sich gerne ergeht. Und zwar, um die in die Irre führende und falsche Assoziationen weckende Titulierung dieser Konzerte als „Brandenburgische“, die dem großen Bach-Biografen Philipp Spitta einmal in einem schwachen Augenblick seiner historischen Darlegungen unterlief, zu bekräftigen und zu perpetuieren. Dazu reicht aber eigentlich eine bloße allgemeine Gegenüberstellung von als barock bezeichneten Komponistenpersonen und einer höfischen Repräsentationskultur mit angewandtem Missbrauch der Musik oder eine spezielle Gegenüberstellung des Köthener Kapellmeisters und des Crétien Louis Monseigneur Marggraf de Brandenbourg noch nicht aus. Es fehlt ein veritables, empirisch nachweisbares Faktum, das die Beziehung beider und die Widmung begründen würde. Es wird auch vom Komponisten in dem in diesem Buch faksimilierten und abgedruckten Widmungstext nicht geliefert. Denn dass Bach beim Markgrafen einmal musizieren durfte („auf Befehl Ihrer Königlichen Hoheit“ versteht sich) und er den Eindruck hatte, dies hätte beim durchlauchten Hörer „ein gewisses Vergnügen“ gefunden, erklärt noch längst nicht, dass er nun glaubte, eine weitere „unterthänigste Pflicht” erfüllen zu müssen in Gestalt dieser sechs „vielstimmig eingerichteten Konzerte“. Aber vielleicht unterhielt ja der Markgraf eine eigene Kapelle, die diese Konzerte hätte spielen können (oder sollen). Aber auch das ist historisch eher nicht verbürgt. Und so lagen die unterthänigst dedizierten Exemplare beim Markgrafen wohl auch lange ungenutzt im Tresor.
Goebel verrät: „dass der Markgraf tanzte, ist durch die Berliner Hof-Diarien belegt [hätte aber schwerlich beim Aufführen eines der Concerts avec plusieurs instruments zum Einsatz kommen können], ob und wie weit sich indes seine Kunstliebe auf andere Disziplinen erstreckte, ob er selbst musizierte [oder auch nur musizieren ließ], ob er zum Pinsel oder reimend, komponierend gar zur Feder griff, all‘ das ist bislang unklar“ und fügt in einer Fußnote hinzu: „Bedenklich ist, dass der Markgraf auf den erhaltenen Bildnissen nur als Heerführer und nie mit irgendwelchen musischen Attributen dargestellt ist. Auch zählt ihn Telemann […] weder unter die Fürsten, die ’wegen der Composition zu verehren’ sind, noch unter solche, die ’wegen der Instrumental-Music’ Anerkennung verdienen“ (S. 65/66). Ziemlich sicher ist also, dass die Widmung ins Leere ging, aus einer Verlegenheit oder Laune heraus entstanden war und von der Nachwelt am ehesten und guten Gewissens hätte vernachlässigt oder ignoriert werden können, wäre man zu Zeiten von Spitta nicht immer noch adelsfixiert gewesen und (bis heute?, bis Goebel?) geneigt gewesen, die Bedeutung der höfischen Musikkultur überzubetonen und die prägende Abhängigkeit der Künstler von ihren durchlauchten Fürsten zu überschätzen. Solche Überschätzung wird bestraft, wenn dann eine modisch-fesche Rundfunkmoderatorin nach der übereilten Einspielung einer Goebelschen Wiedergabe eines der Köthener Concerti grossi Bachs (mit Vorliebe III,2) plaudert, da wäre es „doch recht flott durch die Mark gegangen“. Solche Ansagen gehen einem dann doch durch Mark und Bein und man verflucht ebenso die seit Spitta nachhaltige Namensgebung für diese Konzerte wie auch Goebels Hatz.
Goebel hat zu jedem einzelnen der sechs Konzerte illustre Ideen. Es reicht hier und zeigt, welche Schwächen mitunter Goebels Ansichten anhaften, wenn man auf seine Ausführungen zum dritten der Konzerte eingeht, das wohl als das am meisten missverstandene angesehen werden kann. Es ist auffällig, dass auch der sonst als sehr findig und ketzerisch auftretende Goebel hier ganz konventionell der üblichen Aufteilung der Stimmen in drei Stimmgruppen von je drei Geigen, drei Bratschen und drei Violoncelli folgt und nicht auf die Idee kommt, dass Bach hier vielleicht die Chori-spezzati-Technik angewandt haben wollte, nämlich drei Stimmgruppen aus je einer Violine, einer Viola und einem Violoncello, denn alle sonstigen mehrchörigen Stücke, bei denen die einzelnen Chöre aus je einem Vertreter der verschiedenen Stimmgruppen gebildet sind, sind so notiert, dass die Stimmen 1-3 jeder Stimmgruppe als zusammengehörig spartiert sind.
Zwar wischt Goebel die ultrachristlich-metaphorische, oft in diese Stimmanordnung von 3×3 hineinprojizierte Vorstellung, hier sei die Dreieinigkeit verherrlicht, zu Recht beiseite, aber nur, um eine andere, ebenso fragwürdige Metaphorik von den neun Musen der griechischen Mythologie aus dem Hut zu zaubern, wobei er selbst zugibt, ins Straucheln zu geraten, wolle man diese Göttinnen nun einzelnen Streicherstimmen (vor allem den tiefen) zuordnen. Die traditionelle Gruppierung von drei Stimmgruppen mit je dem gleichen Instrumententyp verführt Goebel auch zur Rede von je einem Stimmführer mit dem Titel 1. Violine usw., die durch nichts gerechtfertigt ist, denn alle drei Stimmen je eines Streichertyps (allerdings nur der Violinen und Violen) scheinen selbständig und gleichberechtigt, vollführen einfach unterschiedliche Figurationen und haben ihre Soli. Goebels Konstruktion scheitert an den drei Violoncellostimmen, denn sie werden von Bach anders als die beiden anderen höheren Stimmen nicht nur kurzzeitig und vorübergehend, sondern, selbst da, wo, wie im 1. Satz, die Stimmen einzeln ausgeschrieben sind, fast durchgehend „unisono geführt“, wie Goebel sich ausdrückt. In einem Spiel dieses reinen Streicherkonzerts mit Basso continuo in getrennten Chören würde aber das jeweilige Violoncello in seiner Gruppe nur dieselbe Basslinie spielen wie seine parallele Stimme in der anderen Gruppe, damit sich in jedem der drei Chöre über der selbstverständlich gleichen Basslinie unterschiedliche Figurationen der beiden Oberstimmen hören lassen. Zwar ist dem Rezensenten klar, dass er ins Grab sinken wird, ohne jemals diese in seinen Augen von Bach gemeinte Version des Konzerts aufführungspraktisch erleben zu dürfen ‑ zumal er seine Hoffnung darauf, dass Reinhard Goebel endlich auf diesen Trichter kommen könnte, wohl endgültig begraben muss – aber allein die Imagination der projektierten Klangvorstellung des inneren Ohres ist schon imposant.
Für seine These, dass das Tempo der zu schlagenden Viertel in dem ersten, von Bach unbezeichneten Satz und in dem mit Allegro überschriebenen zweiten Satz gleich bleiben soll (aber wie schnell ist ein angeblich standardisierbares Viertel der Bach-Zeit oder bei Bach?), gibt Goebel leider keine Begründung. Käme sie allerdings in seinen eigenen Einspielungen zum Zuge, müsste er entweder den ersten Satz schneller oder den zweiten Satz langsamer spielen, denn seine Behauptung kann gerade nicht zur Rechtfertigung dafür dienen, die Sechzehntel des zweiten Satzes zu spielen als wären sie Zweiunddreißigstel.
Manchmal reicht es, einfach zu spielen, was dasteht, wenn man es nach den Spielgewohnheiten der jeweiligen Zeit, in der es komponiert wurde, verstehen kann, anstatt sich über Dreieinigkeit, griechische Musen und Stimmführerschaften auszulassen. Jedes der sechs Köthener Concerti grossi Bachs hat ein mit den plusieurs instruments vorgenommenes Klangexperiment zum Inhalt, das innerhalb des bei Bach notorischen polyphonen Gewebes bei charaktervollen Themen zum Tragen kommt – einfach zur „Ergötzung des Gemüts“.
Dem Buch sind zwei CDs mit der Einspielung der Konzerte mit dem von Goebel geleiteten Ensemble Musica antiqua Köln aus dem Jahr 1987 beigegeben, in der sich etliche andere der von Goebel gefundenen und eloquent beschriebenen Finessen Bachs sehr gut nachhören lassen. Das Buch ist großformatig und edel aufgemacht und mit vielen wertvollen Abbildungen, die – wie es sich gehört ‑ historisch weit ausholen, ausgestattet. Die Lektüre ist meist – selbst da, wo sie Widerspruch hervorruft – vergnüglich; das liegt daran, dass Goebel ein hervorragender Erzähler und Erklärer ist, der manchmal über den von der Konvention gesteckten Rahmen hinausschießt, manchmal in ihm stecken bleibt.
Peter Sühring
Bornheim, 31.05.2023