„Refugium einer politikfreien Sphäre”? Musik und Gesellschaft im Rheinland des 19. und 20. Jahrhunderts [Georg Beck]

Refugium einer politikfreien Sphäre”? Musik und Gesellschaft im Rheinland des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Publikation anlässlich des 200-jährigen Bestehens des Düsseldorfer Musikvereins e.V. / Hrsg. von Helmut Rönz, Martin Schlemmer [u.a.] – Köln: Böhlau, 2023. – 295 S.: 67 teils farb. Abb., Notenbsp. (Stadt und Gesellschaft. Studien zur Rheinischen Landesgeschichte ; 9)
ISBN 978-3-412-51902-5: € 35,00 (geb.)

Ein Tagungsband, der Rätsel aufgibt. Was schon losgeht mit dem Querstand von Veranlassung und Konzeption. Einerseits ist der Focus auf das 200-Jahr-Jubiläum des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf e.V. klar, unmissverständlich. Manfred Hill, Ehrenvorsitzender des Städtischen Musikvereins und Corinna Franz, Dezernentin für Kultur und Landschaftliche Kulturpflege beim Landschaftsverband Rheinland, steuern themenspezifische Grußworte bei; die im Oktober 2018 im Düsseldorfer Stadtmuseum vorausgegangene Tagung zitiert mit „Musik Vereint” das Motto im Jubiläumsjahr, und die Redaktion des Tagungsbandes hebt den Musikverein, sehr konsequent, in den Untertitel. Auf der anderen Seite erscheint derselbe Städtische Musikverein zu Düsseldorf e.V. in dieser Publikation nur indirekt, jedenfalls nicht als eigenständiger, titelgebender Beitrag. Man muss kein Kenner der Materie sein, um zu mutmaßen, dass dies kaum am Gegenstand liegen kann. Die 200jährige Geschichte einer bürgerlichen Selbstorganisation zwischen den widerstreitenden Interessen von Kunst, Kultur, Politik, bietet zweifellos das Potential, eine ganze Springflut von Untersuchungen auszulösen.

Dass die Herausgeber diesen Focus geopfert, nicht ernst genommen haben, hat vor allem der Publikation ein Problem beschert. Die auslösende Tagung, dazu der echoartig nachklingende Tagungsband – im Wissenschaftsbetrieb ja immer die Krönung –, atmen gewöhnliche Call For Papers-Laissez-Faire. Generiert wurden vierzehn Einzelbeiträge, deren, wie die Herausgeber einräumen, „naturgemäß’ zu erwartende Disparität”, ihnen im Nachhinein einige Mühe bereitet hat, diesem Material Verbindend-Verbindliches abzulauschen. Eine „keineswegs leichte Aufgabe” wie sie konstatieren. Man glaubt es gern. Helmut Rönz vom Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte beim Landschaftsverband Rheinland, Martin Schlemmer vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Maike Schmidt vom Historischen Institut der Universität Leipzig behelfen sich auf zweierlei Weise. Zunächst damit, ihrem (nun keineswegs „naturgemäß”) disparatem Material mit Hilfe gewisser allgemeiner Gesichtspunkte den Schein von Synthetisierendem zuzuschreiben, was ihren Wissenschaftsband damit allerdings, sehr unfreiwillig aufs Niveau nichtssagender Schlagwörter drückt.

Als „Akteure” treten auf Felix Mendelssohn in seinen Düsseldorfer Jahren (Peter Sühring), der Pianist Karlrobert Kreiten (Simone Bornemann), die, in einem dem Rheinland vorbehaltenen Band nun doch einigermaßen deplatziert anmutenden Berliner Philharmoniker (Michael Custodis) sowie die Elektropop-Formation Kraftwerk (Karsten Lehl). Sodann werden „Räume” abgemessen, auf ihre Musikaffinität befragt: Der Rhein (Julia Vreden), die NS-Reichsmusiktage Düsseldorf (Nina Sträter), das südliche Rheinland (Andreas Linsenmann), das migrantische Ruhrgebiet (Rolf Wörsdörfer). Dritter Ordnungsgesichtspunkt sind „Kulturträger” wie das Musiktheater Krefeld bis 1921 (Britta Marzl), das musikalische Vereinswesen in Düsseldorf nach seiner politischen Bedeutung betrachtet (Nina Sträter), die WDR-Archive als Spiegel der Musikförderung durch den Rundfunk (Jutta Lambrecht). Was dann immer noch nicht passt, findet sich wieder unter „Impulse und Interventionen”. Verhandelt werden der „schwierige Zugang zum Schönen” (Andreas Altenhoff), 210 Jahre Musik-Institut Koblenz (Andreas Pecht), 250 Jahre Beethovenstadt Bonn (Stephan Eisel). Auch wenn es müßig ist, an dieser Stelle rechten zu wollen, etwa dahingehend, ob Bonn, ob Koblenz nicht ebensogut unter „Räume” hätten einsortiert werden können, inwiefern den Berliner Philharmonikern einerseits, dem „schwierigen Zugang zum Schönen” andererseits tatsächlich Rheinlandspezifisches abgewonnen werden können – einem Fehlschluss muss an dieser Stelle unbedingt vorgebeugt werden: die Disparität des Materials sagt rein gar nichts über die Qualität oder Nicht-Qualität der Einzelbeiträge.

Die allermeisten Beiträge liest man, sofern man sie nicht unter „Rheinland” oder „politikfreies Refugium” zu lesen versucht, mit Gewinn. Voraussetzung ist, Abstand zu gewinnen von den selbstgemachten Problemen der Herausgeber. Dass Kunst, Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft immer politische Relevanz hat, selbst dort, wo sie dies selber bestreiten, gehört zur real-dialektischen Verfasstheit dieser Gesellschaft, die das Gute, Schöne, Wahre ebenso produziert wie, in einer verwertenden Warengesellschaft kein Wunder, das Ungute, Unschöne, Unwahre. Von der Negativen Dialektik her, lösen sich die seitenlang gewälzten Probleme um „politikfreie”, „politikferne” Kunst in Nichts auf. Ein Weg, der den Herausgebern versperrt ist. Deren Blockade rührt vom Klebenbleiben am „Fach”, von dem man kommt, das man vertritt. „Das Spezifische an der vorliegenden Tagungspublikation ist der interdisziplinäre Ansatz, der Landes- und Regionalgeschichte sowie Musikwissenschaften zusammenzubringen beabsichtigt.” (S. 263) Was dieses „Spezifische” sein soll, was es mit dem Aufrufen des „interdisziplinären Ansatzes” auf sich hat, bleibt zunächst unklar. Berechtigterweise ließe sich davon ja erst dann sprechen, wenn verschiedene Disziplinen auf ein Thema blicken würden, was in dieser erklärtermaßen multiperspektivisch angelegten, folglich „naturgemäß” disparaten „Konzeption von Tagung und Tagungsband” aber gerade nicht der Fall ist. „Interdisziplinär” möchte hier etwas Anderes sagen: Landeskundliche, regionalgeschichtliche, archivalische Fragestellungen können erkenntnisgewinnend sein – auch für die Musik. Wieso auch nicht, möchte man entgegnen? Wer sagt, wo steht denn, dass sich nur Musikwissenschaftler über Musik verbreiten dürfen?
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Georg Beck
Düsseldorf, 20.04.2023

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