Paul Ben-Haim / Hrsg. von Franzpeter Messmer [Barbara Schmidt]

Paul Ben-Haim / Hrsg. von Franzpeter Messmer, mit Beiträgen von Tobias Reichard, Liran Gurkiewicz, Oliver Fraenzke u. a. – München: Allitera, 2023. – 156 S.: s/w-Abb., Notenbsp. (Komponistinnen und Komponisten in Bayern ; 68)
ISBN 978-3-96233-364-5 : € 22,90 (kart.)

Paul Ben-Haim (1897–1984, alternative Schreibweisen: Ben-Hayyîm / Ben Chaim) wurde als Paul Frankenburger in München geboren, sein musikalisches Talent förderten die Eltern früh. 1915 hatte er begonnen, Dirigieren, Klavier und Komposition an der Akademie der Tonkunst in München zu studieren, was er 1918 nach seinem Wehrdienst und Kriegseinsatz fortsetzte. 1920 wurde er Assistent von Bruno Walter an der Bayerischen Staatsoper in München, ab 1924 arbeitete er als Kapellmeister und Chorleiter am Augsburger Stadttheater, bis ihm 1931 gekündigt wurde. Danach konnte er aufgrund des wachsenden Antisemitismus und Anfeindungen keine adäquate Position mehr finden. Durch seinen Freund, den Komponisten Heinrich Schalit (1886–1976) bestärkt, beschloss er, Deutschland zu verlassen. Anfang November 1933 emigrierte er nach Palästina. Um arbeiten zu können, änderte er seinen Namen in Ben-Haim (hebräisch für „Heinrichs Sohn“, nach seinem Vater Heinrich Frankenburger).

Ben-Haim wurde die zentrale Figur einer Gruppierung jüdischer Komponisten, die nach Palästina emigriert waren. Er unterrichtete Musiktheorie und Komposition u. a. an der Music Academy in Jerusalem und am Music Teachers Training College in Tel Aviv.1968 wurde Ben-Haim das Bundesverdienstkreuz in Deutschland verliehen. Anlässlich seines 75. Geburtstags lud ihn die Stadt München 1972 zu einem Festkonzert ein. Während des Aufenthalts erlitt er einen schweren Verkehrsunfall. Durch die Folgen blieb er halbseitig gelähmt, auf den Rollstuhl angewiesen und konnte nur noch eingeschränkt komponieren. Er starb 1984 in Tel Aviv.

Seine Werke beinhalten Vokalmusik (darunter ein Oratorium), Orchestermusik, Kammermusik und Klavierwerke; insgesamt 258 Werke aller Gattungen – außer der Oper. In seinen früheren Kompositionen sind Anklänge an Debussy, Ravel, Strauss und Mahler zu hören, in späteren Werken orientalische und nahöstliche Einflüsse, die Avantgarde wies er jedoch immer von sich. Jüdisch-liturgische Musik sowie hebräische Melodien spielen eine wichtige Rolle, wie z. B. im Kabbalath Shabath (Freitagabendandacht, Kantate für Kantor, gemischten Chor, Sopran und neun Instrumente, 1966). Er galt als „israelischer Nationalkomponist“ (S. 12).
2008 erlebte sein Oratorium Joram die erste vollständige Aufführung in deutscher Originalsprache in München durch den Münchner Motettenchor mit Hayko Siemens zum Gedenken an den 70. Jahrestag der Kristallnacht. Joram ist Ben-Haims letzte große Komposition, die er 1931-33 in München vor seiner Emigration geschrieben hatte.

Der vorliegende neueste Band der Reihe „Komponistinnen und Komponisten in Bayern“ stellt die erste deutschsprachige Monografie über ihn dar. Im Vorwort hofft Herausgeber Franzpeter Messmer, „dass dieser Band Impulse gibt, die Musik Ben-Haims in Deutschland vermehrt aufzuführen, zu hören und zu erforschen. Das wäre eine längst fällige Wiedergutmachung.“ (S. 7)
Die Biografie Ben-Haims ist in der Chronik stichpunktartig übersichtlich dargestellt. Die Beiträge beinhalten neben biografischen Aspekten vor allem die nähere Betrachtung seiner Kompositionen mit Schwerpunkt auf der Wandlung seines Personalstils.
Des Weiteren sind Interviews von Tamar Eden (entstanden 1973) sowie Jehoash Hirshberg (1975) mit Ben-Haim enthalten, original in Hebräisch, hier erstmals in deutscher Übertragung. Dadurch erhalten die LeserInnen tiefere Einblicke in Ben-Haims Gedankenwelt. Im Interview mit Jehoash Hirshberg (S. 36) erfahren wir, dass Ben-Haim stark inspiriert wurde durch die Begegnung mit der jemenitischen Sängerin Bracha Zefira (1910–1990). In der Zeit von 1939 bis 1949 war er ihr Klavierbegleiter und Lieder-Arrangeur, ihre Interpretationen von persischen Volksliedern prägten die Melodik seiner Kompositionen nachweislich. Durch das zum Schluß abgedruckte Interview von Oliver Fraenzke mit der Violinistin Liv Migdal (*1988) über ihre Interpretation von Ben-Haims Werken führt der Band die LeserInnen in die Gegenwart.
In den Interviews und im Bildteil, mit Abbildungen aus der israelischen Nationalbibliothek, liegt eine große Stärke des lesenswerten Bandes, wodurch die Biografie plastisch wird.

Es fanden sich kompetente Autoren und GesprächspartnerInnen für die Beiträge: Jehoash Hirshberg ist emeritierter Professor für Musikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem und forschte viel über Ben-Haim; Liran Gurkiewicz promovierte über Werke von Paul Ben-Haim. Tobias Reichard ist Musikwissenschaftler und leitet das 2020 gegründete Paul-Ben-Haim-Forschungszentrum für jüdische Musikkultur in Süddeutschland an der Münchener Musikhochschule.

Im Register- und Quellenteil finden wir neben einer Diskografie auch ein Werkverzeichnis sowie ein (Auswahl-)Literaturverzeichnis. Dort wird (wohl versehentlich) nur die 1. Auflage der englischsprachigen Monografie „Paul Ben-Haim. His life and works“ genannt, verfasst von Jehoash Hirshberg 1990, im Beitrag „Metamorphosen – zur Biografie Paul Ben-Haims“ (S. 11) verweist Tobias Reichard jedoch die 2., revidierte Auflage von 2010.

Ergänzend zur im Band genannten Literatur sei der interessierten Leserschaft als Einstieg außerdem der online verfügbare Eintrag im „Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit“ empfohlen (Tina Frühauf: Paul Ben-Haim, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Hamburg: Universität Hamburg, 2007 https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002546, abgerufen am 30.03.2023)

Seit der Jahrtausendwende ist das Interesse an Paul Ben-Haim langsam wiedererwacht. Ein Teilnachlass Ben-Haims ist seit 2022 durch eine Kooperation mit der National Library of Israel digitalisiert im Ben-Haim-Forschungszentrum an der Musikhochschule in München verfügbar.

Barbara Schmidt
München, 30.03.2023

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