Thomas von Steinaecker u. David von Bassewitz: Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam [Rüdiger Albrecht]

Thomas von Steinaecker und David von Bassewitz: Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam – Hamburg: Carlsen, 2022. – 392 S.: Farb-Zeichnungen
ISBN 978-3-551-73366-5 : € 44,00 (geb.)

„Comics, insbesondere Manga, sind im deutschen Buchhandel inzwischen die drittgrößte Warengruppe innerhalb der Belletristik nach Erzählender Literatur und Spannung“ – so lautete kürzlich eine Pressemeldung. In Japan hat das Manga die erzählende Literatur am Buchmarkt längst überflügelt, auch hierzulande hat sich die Graphic Novel einen festen Platz erobert. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Musikerbiografien in der zwischen Kunst und Literatur angesiedelten Gattung auf dem Markt erscheinen würden. Nach den Größen aus Pop und Rock gelangen nun auch Komponisten der Kunstmusik zu Ehren, darunter – kaum überraschend – Richard Wagner und Ludwig van Beethoven, aber auch Arvo Pärt, nun also dessen Zeitgenosse Karlheinz Stockhausen.

Der Autor Thomas von Steinaecker (Schriftsteller, Filmregisseur, Hörspielautor, Comicszenarist und Journalist) sowie der Illustrator und Graphic Novelist David von Bassewitz haben ein aufwändig hergestelltes, großformatiges eineinhalb Kilogramm schweres Stockhausen-Biopic (eher ein Bio-Comic, falls es diesen Begriff gäbe) vorgelegt, das nach dem ersten Durchblättern die bange Frage, wer sich denn hiervon angesprochen fühlen soll, alsbald verstummen lässt. Es ist mehr und vor allem etwas anderes als eine Biografie des Klangvisionärs (Stockhausen) und die seines Bewunderers (der Autor). Schon das Coverbild lässt keinen Zweifel aufkommen: Der entschlossene Blick eines jungen Mannes, Karlheinz Stockhausen, dessen Mission es ist, in die Unendlichkeiten fremder Welten vorzustoßen. Gleich einem Raumschiff unmittelbar vor dem Start erwarten ihn Botschaften aus fernen Welten. Wer hier an Star Wars oder andere Science-Fiction-Serien denkt, liegt nicht einmal falsch, schließlich weist obendrein noch der Buchtitel („Der Mann, der vom Sirius kam“) darauf hin. Doch wenn auch der Titel Zukünftiges beschwört, im ersten Kapitel („wie die Zeit vergeht“) wird der Blick zunächst in die Vergangenheit (genauer in zwei Vergangenheiten, die Jugend des Autors und die Kindheit des Komponisten) gerichtet. Science-Fiction ist aber auch die Welt des 12jährigen Thomas, der sich mit ihrer Hilfe aus sommerlicher Lethargie und dörflicher Ödnis herausträumt. Und der Beginn des Buches ist ein Zitat aus den Asterix-Comics, jeder kennt es aus seiner Kindheit, denn alle Bände beginnen mit der immer gleichen Einladung zu einer (fantastischen) Zeitreise.

Die Autoren gliederten ihr Buch in fünf Kapitel, deren Überschriften fast immer mehrdeutig sind: Der Titel des ersten Kapitels „Wie die Zeit vergeht“ zitiert einen frühen Aufsatz Stockhausens; der Komponist entfaltet darin eine für sein Schaffen zentrale Idee des Zeitkontinuums. Die Erzählung der frühen Jahre der beiden Protagonisten baut ganz in diesem Sinne auf extrem gestauchte wie auf gestreckte Zeitintervalle auf: Stockhausens Kindheit und Jugend bis zum Kriegsende stehen im Zentrum dieses ersten Kapitels, kontrapunktiert von den Jugendjahren Steinaeckers, in die das durch den Vater vermittelte Hören einer Stockhausen-Schallplatte mit der elektronischen Komposition Gesang der Jünglinge wie ein Blitz hineinfährt. Das Kapitel ist das deutlich längste des Buches: Nicht nur die schrecklichen Kindheits- und Jugenderlebnisse will es schildern – die biografischen Stationen und Schlüsselerlebnisse dienen als Wegmarken und Hinweise auf das Werk. Zwar ist die Verknüpfung von Leben und Werk in der Biografik spätestens seit Carl Dahlhaus in Verruf geraten, wenn das Leben gewissermaßen – wie in der zum Schund verkommenen Gattung des Musikerromans – im Dienste der Werkdeutung zu stehen hat, doch den Autoren gelingen verblüffende und überzeugende Zusammenhänge und Einsichten, gerade auch da, wo die Erzählung mit fiktionalen Anteilen durchsetzt ist. Sie begehen eben nicht den Fehler, Erlebnisse und Erfahrungen als Instrumente von Werkdeutung heranzuziehen, im Gegenteil, sie zeigen und verbildlichen Inspirationsquellen. Nicht nur dieser – in der Biografik eher unübliche – Kunstgriff, sondern auch Techniken der Überblendung, etwa wenn der junge Steinaecker durch Köln fährt und in Gedanken die Ruinen sieht, die für den jungen Stockhausen so prägend waren, rücken das Medium der Graphic Novel in die Nähe einer ihr verwandten Kunstgattung, den Film. Der eng getaktete, gelegentlich eingefrorene Bildrhythmus, aber auch das stellenweise straffe Lesetempo führen (zumindest beim Rezensenten) zu einer Lektüredauer in Spielfilmlänge: Es sind dies Indikatoren für die enge Verwandtschaft zu filmischen Techniken.

Die weiteren vier Kapitel des Buches tragen allesamt ikonische Werktitel Stockhausens, wie überhaupt der Stockhausen-Kenner zahlreiche Bildvorlagen wiedererkennt. In manchen Fällen, bei Dokumenten wie Schriftstücken, Manuskripten, ist gelegentlich nicht sofort erkennbar, dass es sich um Zeichnungen nach den Vorlagen handelt, was gerade im Medium der Graphic Novel den Reiz des Nichteindeutigen ausmacht. Die biografischen Details nicht nur des ersten Kapitels machen noch etwas deutlich, was in einem nicht-bildnerischen Medium nicht so offensichtlich hätte dargestellt werden können, nämlich die früher stets in Abrede gestellte Welthaltigkeit der Musik Stockhausens (wenn auch in einer durchaus anderen Lesart als in Harry Lehmanns diesbezüglichen Gehaltsästhetik).

In den weiteren Kapiteln, „Kontrapunkte“, „Gesang der Jünglinge“, „Kontakte“ und „Licht“, stehen nicht nur die jeweiligen Werke und ihre Entstehung im Mittelpunkt, sondern auch jeweils ein Schaffensjahrzehnt. Die Autoren spannen immer wieder neue Beziehungslinien zwischen Leben und Werk, überraschend etwa im Zusammenhang mit Stockhausens zweiter Ehefrau, Mary Bauermeister und ihrem bildnerischen Werk.

Die Lektüre macht nicht nur Spaß wegen der eindringlichen aber auch humorvoll erzählten Geschichte, die Cartoons sind in ihrer knalligen Farbigkeit und Explosivität sinnliches Äquivalent musikalischen Ausdrucks (Dieter Schnebel entwarf einst eine „Visible Music“, in der die Zeichnungen ein inneres Hören auslösen sollten). Großartig etwa, wenn der junge Thomas zum ersten Mal den Gesang der Jünglinge hört: das kracht und zischt ganz wild, beinahe abstoßend. Bald aber schlägt die Abwehr in Faszination um, und gerade hier zeigen sich die Stärken der „grafischen Erzählung“. Da schreibt kein Biograf in kritischer Distanz, hier huldigt ein Fan seinem Idol, was wohl auch zur Folge hat, dass die schwierigen Seiten des Vorbilds kaum zur Sprache kommen. Doch ein zweiter Band, der dann auch die Lebenslinien der beiden sich kreuzen lassen wird, ist in Arbeit.

Im Anhang des Buches findet sich ein „Trailer“ zum Folgeband, dazu kommen eine Playlist, eine Danksagung und Biografien der Autoren, sowie Skizzen und Studien. Auf den zweiten Band darf man sich freuen.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 26.04.2023

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