Eduard Steuermann. „Musiker und Virtuose“ / Hrsg. von Lars E. Laubhold. – München: edition text + kritik, 2022. – 539 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-86916-817-3 : € 59,00 (geb.)
Wahrscheinlich besser noch als jede monographische Darstellung aus einer Hand und einem Guss bietet der vorliegende, auf eine Tagung im November 2018 zurückgehende Sammelband ein lebendiges Bild des Pianisten, Musikpädagogen und Komponisten Eduard Steuermann (geboren 1892 in Sambor/Ukraine, gestorben 1964 in New York), denn hier kommen Autoren zu Wort, denen man anmerkt, dass sie sich längere Zeit kenntnisreich und liebevoll um verschiedene Aspekte dieses aufregenden und Generationen von Musikern prägenden Künstlers gekümmert haben. Hier gilt: nomen est omen: Er war ein wirklicher Steuermann, aber ohne je zu kommandieren, sondern allein durch seine konsequente und aufrichtige Nachdenklichkeit und seine überzeugende künstlerische Phantasie. Es wurde höchste Zeit, ihm ein aufklärendes Buch zu widmen.
Sinnvollerweise eröffnet der Herausgeber den Band mit einer biographischen Skizze Steuermanns, die den ganzen Steuermann mit seinen vielfältigen Interessen zeichnet, ohne ihn auf das bisher bekannte Bild vom Schönberg-Interpreten zu reduzieren. Im Gegenteil thematisiert er gerade in dem Bemühen, Steuermann von dieser einseitigen Sicht zu befreien, auch die Konflikte, die durch die von Schönberg geforderte Abhängigkeit verursacht wurden. Eine galizische Kindheit und Jugend mit frühen Konzertauftritten in Czernowitz und Lemberg, dann die unausweichliche Orientierung nach Wien und Berlin, ein von Busoni eingefädelter Eintritt in den usurpatorischen Bannkreis Schönbergs und Steuermanns lebenslanger Versuch, seine Selbständigkeit als Konzertpianist auch für das klassisch-romantische Repertoire als Klavierlehrer, als Editor und Komponist zu wahren. Zwar wusste Schönberg, was er an Steuermann hatte, ohne den manche Uraufführung und Verbreitung seiner Werke (auch durch die von Steuermann produzierten Bearbeitungen für Klavier alleine) kaum so glücklich verlaufen wäre, aber er scheute sich nicht, auch Steuermann in das schulkonforme Spannungsverhältnis von Treue und Verrat hineinzuziehen.
Eigene Konzerte, auch jenseits der Aufführungen in Schönbergs Verein für Privataufführungen, Lehraufträge und Unterricht von Privatschülern, auch Vorträge, zunächst in Prag und Wien und später auch in den USA, hielten ihn aufrecht. Während der Emigration konnte er sich nur schwer auf die amerikanische Art, Musik zu machen und zu verstehen, einlassen. Freundschaften mit Rudolf Kolisch und Hanns Eisler, gemeinsame Ferienkurse im Black Mountain College retteten ihn vor der Isolation. Fern von Schönberg in New York lebend und verstärkt nach dessen Tod konnte Steuermann seine kompositorische Emanzipation vollziehen. Sporadisch kehrte er nach Europa zurück, auch für die Teilnahme an den Darmstädter Sommerkursen, wodurch seine Interpretationskünste zeitgenössischer Musik, d.h. seine Kunst, zwischen den Notenzeilen zu lesen, auf dem alten Kontinent auch nach dem Krieg nicht unbekannt blieben. Allerdings sind (Verleger aufgepasst!) seine Schriften, die weit über ihre aktuellen Anlässe hinaus Bedeutung haben, bisher entweder nur in schlechten englischen Übersetzungen erschienen oder, sofern später im Original auf Englisch geschrieben, nie ins Deutsche übersetzt worden, wie die am Schluss des Buches eingestellte Bibliographie aufzeigt. Ein Anhang zu diesem Porträt von Laubhold bringt den Abdruck einer Reihe von Rezensionen der Konzertauftritte Steuermanns von Czernowitz 1905 bis Los Angeles 1936.
Eine ebenso niederschmetternde Erkenntnis hinterlässt die von Werner Unger veranstaltete Durchforstung von Steuermanns phonographischem Nachlass. Für die meisten seiner Einspielungen von Emanuel Bach über Mozart, Beethoven, Schumann, Brahms, Busoni, Schönberg, Berg bis hin zu seinen eigenen Werken heißt es zumeist: unpublished! Vielleicht könnte sich ein Label finden, das Steuermanns Aufnahmen die Billigkeit widerfahren lässt, die man für Arthur Schnabel (auch ein Virtuose, der zugleich Musiker war) als rechtens empfand. Dankenswerterweise gibt es in dem Buch einige, allerdings meist gar nicht nachprüfbare, aber argumentativ sehr ausgefeilte Analysen einzelner Interpretationen Steuermanns: so befasst sich Laubhold mit Steuermanns Einspielungen von Bach und Mozart, Jürg Stenzl mit der von Beethovens Diabelli-Variationen, Thomas Glaser mit der von Schönbergs Phantasy for Violin with Piano Accompagnement op. 47 (mit Kolisch an der Geige), Cristian Utz mit der von Schönbergs Sechs kleinen Klavierstücken op. 19, Volker Rülke mit der von Steuermanns eigenen Klavierwerken, jenseits davon, im Banne Schönbergs zu stehen, Martin Zenck mit dem Mitschnitt der Uraufführung von Steuermanns 2. Streichquartett Diary durch das Juilliard String Quartett im Jahr 1963. Matthias Schmidts Darstellung des Verhältnisses Steuermanns zu Anton von Webern geht über das spielanalytische hinaus und bringt neue biographische und musikästhetische Einsichten.
Karin Wagner zeigt auf, wie nah Brechts Hollywooder Elegien Über die Dauer des Exils Steuermann von ihrer Atmosphäre her gingen und auf welch andere Weise als Eisler er einige von ihnen kongenial vertonte. Anton Voigt gewährt Einblick in die Grundsätze und die Wirkungen von Steuermanns Art, Unterricht zu erteilen in der Kunst, Klavier zu spielen. Wiener und amerikanische Erfahrungen spielen hierbei eine große Rolle. Es geht um eine Spielweise nicht ohne Ausdruck im Einzelnen, aber sehr auf architektonische, d.h. intellektuelle Einsicht in das Ganze des einzelnen Kunstwerks ausgerichtete, die manche als kalt empfinden, die nicht aus bloßer Spontaneität, sondern aus einer Versenkung ins Werk herrührte – das war bei Steuermann zu lernen. Eike Feß macht mit den Lebens- und Schaffensdokumenten der Edward Steuermann Collection, die im Wiener Arnold Schönberg Center verwahrt werden, bekannt.
Einen etwas deplatzierten Eindruck macht der inhaltlich sehr interessante Beitrag von Reinhard Kapp, als hätte er sich in diesen Band verlaufen, denn er spiegelt zwar etwas im Umfeld Steuermanns einschlägig innerhalb der Zweiten Wiener Schule Diskutiertes wider und stellt es kommentierend dar, kann und will aber nicht einmal die Stellung Steuermanns zu diesen Fragen benennen. Es geht um eine speziell von dem Geiger Rudolf Kolisch herrührende Theorie über etwas spezifisch Wienerisches an einer bestimmten Auffassung von musikalischem Espressivo. Gemeint ist ein Begriff von Ausdruck in der Musik, mit dem nicht etwas Emphatisches, etwa die Behauptung, Musik könne und solle Gefühle ausdrücken, gemeint ist, sondern eher ein aufführungspraktisches Phänomen, wodurch das Komponierte die in ihm angelegte Prägnanz erhält, ein hörbares Profil bekommt, eine äußere performative Bewegung analog der inneren Form des musikalischen Kunstwerks während der Interpretation stattfindet. Kapp spannt den Bogen weit zurück bis zur Affektdiskussion bei Johann Joachim Quantz und Emanuel Bach (als Vertreter einer damaligen Berliner Schule mit ihren internen Meinungsverschiedenheiten). Gern hätte man in diesem Zusammenhang gewusst, ob diese Debatte nicht auch ein Wiener Echo bei Georg Christoph Wagenseil und Matthias Georg Monn (als Vertreter der [Ersten] Wiener Schule, wie Christian Friedrich Daniel Schubart sie damals schon bezeichnete) gehabt hatte. Überhaupt fällt an dieser Stelle besonders auf, wie unhistorisch es ist, einzig Schönbergs Richtung und Gruppierung als Wiener Schule zu bezeichnen, statt die ihr zukommende Zählung Zweite Wiener Schule zu verwenden. Tut man das, weil man meint, keiner wisse mehr, wer oder was früher einmal die Wiener Schule war und weil man mithelfen will, diesen Zustand zu befestigen? Spätestens, wenn man sich die Herkunft des von Schönberg nach Monn arrangierten Violoncellokonzerts klarmacht, stößt man immer noch und wieder auf die von Schönberg noch gekannte und geschätzte Erste Wiener Schule.
Es ist also ein Buch gerade für Leute, die Steuermann vielleicht nur aus den Bemerkungen eines seiner berühmtesten Schüler, Theodor W. Adornos, kennen, der mit seinen ziemlich schwachen musikhistorischen Kenntnissen ganz gewiss im Banne Schönbergs stand.
Peter Sühring
Bornheim, 05.07.2022