Joonas Sildre: Zwischen zwei Tönen. Aus dem Leben des Arvo Pärt / Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann. 2. Aufl. – Berlin [u.a.]: Voland & Quist, 2022. – 224 S.: s/w-Zeichn.
ISBN 978-3-86391-281-9 : € 30,00 (geb.)
Arvo Pärt, estnischer Komponist mit österreichischer Staatsbürgerschaft, blickt mit seinen nunmehr 87 Jahren auf ein Leben zurück, das durch einen markanten – äußerlichen – Bruch und eine tiefe – innere – Zäsur mit anschließendem Neuanfang gekennzeichnet ist. Die ersten 45 Jahre seines Lebens verbrachte Pärt im damals sowjetischen Estland; es waren Jahre der Suche nach einer eigenen Sprache, zahlreicher Krisen mit langjährigen Schaffenspausen und Repressalien seitens des Komponistenverbandes und anderer Institutionen. 1980 dann die Ausweisung in den Westen. In diesen gleichfalls nun knapp 45 Jahren vervollkommnete Pärt seinen 1976 entwickelten Tintinnabuli-Stil (der gleichermaßen eine Kompositionstechnik mit eigenem Regelwerk wie eine musikalische Sprache ist) und schuf ein umfangreiches Werk, das ihn zu einem der meistgespielten Komponisten der Gegenwart werden ließ. Die beiden Lebenshälften stehen sich in ihrer Gegensätzlichkeit diametral gegenüber: Der versagten Anerkennung in den Sowjetjahren folgten beispiellose Erfolge, durch die Pärt im Westen einen Kultstatus erlangte. Auslöser waren anfangs nicht in erster Linie Aufführungen der Musik, sondern die Schallplatten und CDs des Labels ECM, die durch Aufmachung, sorgfältige Auswahl der Interpreten und einer Klangästhetik, die „sakrale Sehnsüchte“ zu bedienen schien, sehr hohe Auflagen erreichten.
Angesichts dieser herausragenden Stellung im Musikleben ist, zumindest im deutschsprachigen Raum, bislang nur wenig Literatur über den Komponisten erschienen. Eine Primärquelle ersten Ranges ist das Gespräch mit Enzo Restagno von 2003, und kürzlich ist eine profunde Studie von Marcell Feldberg erschienen, die sich kritisch mit Pärts Stellung innerhalb der (und Haltung zur) Postmoderne auseinandersetzt.
Mit der Graphic Novel Zwischen zwei Tönen des in Tallinn lebenden Comic-Künstlers Joonas Sildre ist die Literatur über den heute wieder in Tallin lebenden Komponisten um eine literarische, keinem wissenschaftlichen Anspruch verpflichtete Arbeit bereichert worden, die die erste Lebenshälfte Arvo Pärts bis zur Ausreise in den Westen im Jahr 1980 in biografischen Stationen schildert. Der Autor, der das Buch sowohl gezeichnet als auch geschrieben hat, illustrierte Kinderbücher, organisierte Comicfestivals und legte nun erstmals eine Graphic Novel in estnischer Sprache vor, die im Oktober 2018 anlässlich der Eröffnung des Arvo-Pärt-Zentrums in Laulasmaa in Estland veröffentlicht wurde (als, wie es heißt, überhaupt „erster grafischer Roman Estlands“). Die 2021 vorgelegte und 2022 in 2. Auflage erschienene Übertragung ins Deutsche stammt von dem Sprachwissenschaftler und Übersetzer Maximilian Murmann.
Sildre hat sich in der Gestaltung des Buches für drei grafische Verfahren entschieden. Da ist – auf den ersten Blick zu sehen – die Reduktion auf Graustufen; neben Schwarz und Weiß setzt der Autor eine Palette von chamoisfarbenen Tonstufen ein, die an gefärbten Fotokarton alter Schwarzweißabzüge erinnern, aber auch an Grafiken: offenbar soll die ungewöhnliche Farbtönung die Aura einer zeitgeschichtlichen Ferne evozieren. Und für die Bildgestaltung nutzt Sildre zwei Techniken: in den erzählenden Passagen eine freie, manuelle Linienführung, die sich in der minimalistischen Gestaltung von Details stark von modischen Comics und Mangas abhebt. Die Stellen hingegen, an denen der Erzählfluss angehalten wird, wo also ganz bildlich Pärt eine neue Stufe seines Bewusstseins erklommen hat, setzen ganz auf gezirkelte, flächige Formensprache. Gelegentlich werden beide Verfahren vermischt, etwa in der Zeichnung, die eine Empfängnis durch einen vom Himmel herabtrudelnden Ton darstellt: eine Darstellung der Verklärung hart am Rande des Kitsches, die gewiss ohne die Vereinnahmung der Pärtschen Musik durch Esoterik (New Age) und Spiritualität so nicht denkbar gewesen wäre. Der „empfangene“ Ton, quasi ein beseelter Ton, durchzieht das ganze Buch, mal in einzelnen Linien, mal als Klang, mal als Geräusch. Sildre gelingt auf diese Weise eine wunderbare Visualisierung akustischer Vorgänge.
Die erwähnte Vereinnahmung von Pärts Musik erschwert die vorurteilsfreie Rezeption erheblich. Es führt auch dazu, dass Pärts Schaffen eher weniger oder nur widerstrebend im Umfeld der zeitgenössischen Musik verortet wird, dank ihrer Zugänglichkeit sich aber einen festen Platz im Repertoire nicht nur von Chören erobert hat. Dieser Umstand wurde jüngst von Marcell Feldberg thematisiert, der die Meinung vertrat, dass Pärts Tintinnabuli-Musik letztlich aus dem Kreis des klanglich-ästhetisch Abgesicherten nicht mehr herauszutreten vermag (oder weniger elegant ausgedrückt, dass der stilistisch definierte Radius der Musik in einen Zustand der Erschöpfung treten wird oder bereits getreten ist). Pärts Musik scheint leicht fassbar zu sein, daher verpasste man ihr allzu rasch Etiketten wie Neue Einfachheit oder Minimalismus. Doch die Quellen von Pärts musikalischer Ästhetik liegen tiefer. Hermann Conen schreibt, dass „die Musik des Tintinnabuli in ihrem Kern nicht die Entfaltung der innermusikalischen Potentiale zum Ziel hat, sondern […] eine ritualisierte musikalische Lesung des christliches Wortes.“ Ganz im Sinne frühester abendländischer Musik „stellt der Komponist sein schöpferisches Ich hintan und strebt eine streng formalisierte, überpersönliche Tonordnung an.“ (Leopold Brauneiss). Zur Faszination mag beitragen, dass die ichlose, anti-expressive Musik geradezu als besonders ausdrucksvoll wahrgenommen wird. Die „Tiefe“ in Pärts Musik ist letztlich Resultat der Anmutung des Archteypischen. Die „Reise ins Innere“ des Klanges führt nach Aussage des Komponisten zu dem Nicht-Individuellen, einem Allgemeinen, welches allen Menschen (und allen Klängen) zu eigen ist. Dass die Kategorie des Schönen aber auch als etwas Hinzugefügtes, nicht als etwas der Musik (hier: einem Stil) Inhärentes gelesen werden kann, wurde in einem Kammergespräch mit Luigi Nono im Kammersaal der Hochschule der Künste Berlin am 20. Juli 1986 offenbar, als Arvo Pärt sich unvermittelt aus dem Publikum zu Wort meldete und die verstörende Frage stellte: „Gigi, warum schreibst du keine schöne Musik?“ Nono (beide kannten sich seit 1963) schwieg ein, zwei endlose Minuten, um schließlich antwortlos seine Ausführungen fortzusetzen. Befremden und tiefe Erschütterung füllten den Raum, beredter hätte die Distanz zwischen den auf so unterschiedliche Weise um – wenn auch ganz unterschiedliche – Wahrheit(en) Ringenden nicht sein können.
Im Buch wird anschaulich beschrieben, wie Pärt zahlreiche Krisen und Zeiten völliger Ratlosigkeit durchstehen musste, um seinen Weg zu finden. Pärt war, als er seinen Tintinnabuli-Stil entwickelte, etwa im selben Alter wie Anton Bruckner, als dieser nach langen Selbstzweifeln seine erste Sinfonie schrieb – und Pärt mochte das erste Werk seines neuen Stils Für Alina zunächst gar nicht als Musik akzeptieren. Der treffende Titel des Buches Zwischen zwei Tönen benennt zwei Aspekte der Pärtschen Musik: Das ist zum einen die Stille, die den Fluss der Musik unterbricht und den Hörer zum Lauschen in den Klang auffordert. Doch zwischen den Tönen ist auch das Nichts, denn die zwei Stimmen des Tintinnabuli-Stils verschmelzen zu einer Einheit, was Pärt in eine Gleichung fasste: 1+1=1. Und zwischen zwei Tönen liegt auch, nach den Worten des Komponisten, eine kosmische Distanz: Sildre lehnt sich hier an Platons Höhlengleichnis an, wenn er den Protagonisten seines Buches in der Lektüre eines frühen orthodoxen Textes zu der Erkenntnis gelangen lässt, dass die Leerung zur Stille führt – Erkenntnis tritt vor das Verstehen.
In einen Prolog und drei Kapitel hat der Autor das Buch unterteilt. Der Prolog behandelt Kindheit und Schule, das erste Kapitel Credo nach der gleichnamigen Komposition von 1968 den Weg von der Musikschule bis zu der Erkenntnis, mit Credo in eine Sackgasse geraten zu sein. Das zweite Kapitel Silentium beginnt mit dem prägenden Erlebnis, erstmals – als 34jähriger! – einen gregorianischen Choral zu hören und danach für mehrere Jahre musikalisch zu verstummen. Das Schlusskapitel Tabula rasa schließlich beschreibt Pärts Erfindung des Tintinnabuli-Stils und endet mit der Ausweisung der Pärts aus Estland. Viele Episoden des Buches sind mit vorangestellten Jahreszahlen gekennzeichnet, die als Sub-Kapitelmarken dienen und gleichzeitig helfen, das Beschriebene in einen historischen Kontext zu stellen.
Der fiktionale Anteil der Erzählung scheint, abgesehen von kleinen Ausschmückungen, gering zu sein, der Grad an Authentizität hingegen, wie es die Danksagung an Arvo und Nora Pärt nahelegt, entsprechend hoch. Das Buch ist sehr lebendig geschrieben, Bild und Text finden, nicht zuletzt in der sehr glücklichen Übersetzung, zu einer Einheit. Auch wenn kundige Leser manche, der Form der Graphic Novel geschuldeten Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge bemängeln sollten: dem Buch gelingt es überzeugend, ein überaus eindrückliches Portrait des Komponisten zu zeichnen.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 29.06.2023