Gerhard Müller: Bagatellen für B. Der Komponist Reiner Bredemeyer – Berlin: Verlag Neue Musik Berlin, 2022. – 330 S.: s/w-Fotos und -Abb.
ISBN 978-3-7333-2756-9 : € 20,00 (geb.)
Ironie, Humor, auch Spott – für Reiner Bredemeyer wie für viele Künstler, die in der DDR ihr Metier verteidigen mussten, ohne ihr Gewissen preiszugeben, waren dies die verbalen Abwehrmittel; in diesem Buch findet sich hierfür das treffliche Bild vom Volkswitz, das der russische Literaturtheoretiker Michael Bachtin im Rahmen seiner Theorie des Karnevalismus geprägt hatte. Gerhard Müller hat einige Anekdoten zur Hand, die dies auf lebendige Weise belegen. Ironie und Mehrdeutigkeit – nicht nur für die Person Bredemeyer gilt dies, auch für sein kompositorisches Werk. Etwa im „unbekümmerten“ Umgang mit Tradition, wenn er 1984 Franz Schuberts Winterreise nicht etwa neu komponierte oder bearbeitete, wie dies Hans Zender und etliche andere taten, sondern stattdessen die Gedichte von Wilhelm Müller in ihrer ursprünglichen Anordnung neu und ohne Rückversicherung auf das Vorbild vertonte. Nicht um Aktualisierung ging es dabei, die Texte sollten unvorbelastet befragt werden.
Eine gehörige Portion an Spott musste gelegentlich aufgefahren werden, wenn Kulturfunktionäre meinten, fachliche Entscheidungen oder Urteile fällen zu müssen. Müller berichtet hier genüsslich von einer Tagung der Akademie der Künste im März 1981, bei der Naturwissenschaftler und Soziologen sich der Rolle der Künste in der sozialistischen Gesellschaft widmen sollten. Keiner der Gelehrten wollte sich im Sprechen über Musik eine Blöße geben, doch der, der sich schließlich dazu bereitfand, ein seinerzeit geschätzter Bestsellerautor, entblödete sich nicht, die Dissonanzfrage mit Rattenversuchen belegen zu wollen: Die Tiere fühlten sich nicht durch große Lautstärken gestört, wohl aber durch Dissonanzen, so seine bemerkenswerte These, die sie dazu brachte, ihre Schwänze selbst abzunagen (in den 1970er Jahren wurde im Rahmen einer in Bayern durchgeführten Studie Mozarts Musik als Mittel zur Produktionssteigerung für Milchkühe bemüht). Die anwesenden Komponisten konnten solcherlei Sottisen nur mit Fassungslosigkeit begegnen.
Reiner Bredemeyer war der älteste Komponist des „Mächtigen Häufleins“, zu dem noch Paul-Heinz Dittrich, Siegfried Matthus, Georg Katzer, Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker und Udo Zimmermann gezählt wurden, allesamt Jahrgänge zwischen 1929 und 1943. Bredemeyer wurde 1929 in Kolumbien geboren, kam aber schon im zweiten Lebensjahr nach Europa. Über diverse Stationen, einer Kindheit in Frankfurt/Oder und in Breslau, gelangte er 1946 nach München, wo er den während der NS-Zeit in die innere Emigration gegangenen Karl Amadeus Hartmann und die von ihm ins Leben gerufene Konzertreihe Musica viva kennenlernte. Hartmann machte Bredemeyer mit Neuer Musik vertraut und war für den jungen Komponisten eine Art Vaterfigur. Ab 1951 gab es vereinzelt Aufführungen eigener Werke, doch Bredemeyer konnte in München nicht Fuß fassen. 1954 folgte er einer Einladung von Paul Dessau zum zweiten Kongress des Komponistenverbands in Leipzig. Er siedelte nach Ost-Berlin über, wie nicht wenige Künstler bis 1961, und wurde Schüler von Rudolf Wagner-Régeny sowie Assistent Dessaus. Auch hier widmete er sich zunächst fast ausschließlich der angewandten Musik, der er bis zuletzt treu blieb. Erst 1970 – Bredemeyer war da bereits 41 Jahre alt – reüssierte er im Konzertsaal, mit den zum Beethovenjahr 1970 geschriebenen Bagatellen für B., einem Werk für Klavier und Orchester, das zu seinen erfolgreichsten Werken zählt. Ob die Bagatellen, deren Ausgangspunkt zwei Klavierbagatellen Beethovens sind, diesem gewidmet seien oder ihm selber, ließ Bredemeyer offen. Mehrdeutigkeit und zahlreiche Anspielungen zeigen, dass Bredemeyers Musik (nicht nur die angewandte) kaum je als absolute Musik gedacht ist. Die Bezeichnung „engagierte Musik“ – eine Musik, die eine Haltung verkörpert – trifft es wohl genauer, es unterscheidet die Komponisten des „Mächtigen Häufleins“ der DDR von den meisten ihrer Vätergeneration. Gerhard Müller weist darauf hin, dass Engagement und Aktualitätswert jegliche Musik, sobald sie ihren historischen Ort oder ihr gesellschaftliches Umfeld verlassen hat, schnell in ein historisches Dokument verwandeln kann. Dies mag einer der Gründe sein, warum es die Kunstmusik im Vergleich mit den anderen Künsten in der DDR schwer hatte, besonders aber welchen Bedeutungs- und Wahrnehmungsverlust sie nach der Wende erleiden musste.
Gerhard Müller, der Autor des Buches, war in der DDR-Musikszene in seiner Tätigkeit als Musikredakteur, Autor, Dramaturg, Musikkritiker und Librettist vielfältig vernetzt. Nicht nur in letzterer Funktion hatte er mit Bredemeyer zu tun – er schrieb das Libretto zu der Oper Candide, einem von Bredemeyers Hauptwerken –, er kannte den Komponisten seit 1972. Der enge persönliche Kontakt sichert dem Buch eine Authentizität, die sich keineswegs als Fallstrick erweist. Im Gegenteil, Müller bewahrt bei aller Bewunderung für seinen Gegenstand auch eine gewisse Distanz und lässt den zahlreichen Dokumenten zu Leben und Werk genügend Raum. Hierbei erfährt der Leser so manches Überraschende, etwa, dass Wolf Biermann – den Bredemeyer seit Ende der 1950er Jahre kannte – einige Zeit zusammen mit einer gewissen Margot Feist aufwuchs. Diese war als Pflegekind in die Familie gekommen, später machte sie unter dem Namen Margot Honecker Karriere als Ministerin. Gerhard Müller entgeht hier wie überhaupt in dem ganzen Buch der Gefahr, einer in letzter Zeit wieder zunehmenden Nostalgie zu huldigen (zu bedenken ist indes, dass die allermeisten DDR-Komponisten von öffentlicher Förderung lebten, die mit der Wiedervereinigung zu großen Teilen wegbrach, was die Komponistenszene ihrer Existenzgrundlage beraubte). Müller beschreibt hingegen die Versuche des DDR-Staatsapparates, Kritiker in die Schranken zu weisen; die Adressaten beantworteten dies gerne – zumindest intern – mit Humor. Heute muten solche Versuche kaum mehr bedrohlich an, allenfalls noch amüsant und ein wenig hilflos.
In den ersten vier bzw. fünf Kapiteln des Buches entrollt Müller Bredemeyers Biografie und widmet sich verschiedenen übergreifenden Themen. Die Kapitel fünf bis 13 sind einzelnen Gattungen im Werk Bredemeyers gewidmet, etliche teils ausführliche Werkbeschreibungen sind hier zu finden und viele Werke werden häufiger erwähnt. Leider enthält das Buch kein Werkregister im Anhang, so dass es nur eingeschränkt als Nachschlagewerk nutzbar ist. Der Anhang des Buches enthält drei teils sehr ausführliche Gespräche, zu Bredemeyers Lebensstationen, seiner Oper Candide und zu Fragen der Textbehandlung. Ob es notwendig war, die Gespräche ins Buch mit hineinzunehmen, sei dahingestellt; etliche Details kennt der Leser bereits aus den vorangegangenen Kapiteln. Nützlich sind die angefügte Bibliografie und ein Personenregister. Ein Werkverzeichnis hätte vermutlich den Umfang des Buches gesprengt, daher sind im Anhang vier QR-Codes abgedruckt, die zu den Werklisten der Musik für den Konzertsaal und jeweils zu den Bühnen-, Hörspiel- und Filmmusiken führen sollen. Der erste Link erwies sich beim Abscannen als Irrläufer, was freilich kein Problem ist, da die Webseite im Internet leicht auffindbar ist.
Ein Symptom zum Stand der Rezeption von Bredemeyers Musik ist die Tatsache, dass derzeit so gut wie keine Tonträger mit seiner Musik erhältlich sind. Die vor etwa 20 Jahren veröffentlichten CDs, größtenteils Kompilationen in Reihen wie Musik in Deutschland oder Musik in der DDR, sind längst vom Markt verschwunden. Vielleicht muss die Musik Bredemeyers und seiner Zeitgenossen noch warten, doch um eine Renaissance in die Gänge zu leiten, ist das vorliegende Buch ein erster und wichtiger Schritt.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 03.02.2023