Elisabeth Trautwein-Heymann: „Vom Paradies ein goldner Schein“. Durch Kinderaugen: Musik und Menschen im Hause Werner Richard Heymann. – Berlin [u.a.]: Hentrich & Hentrich, 2022. – 82 S.: 25 s/w- u. Farbabb.
ISBN 978-3-95565-561-7 : € 15,00 (Klappenbrosch.)
Unterm Strich leider noch unverdient zögerlich verläuft die kulturgeschichtliche Erschließung des großen UFA- und Hollywood-Komponisten Werner Richard Heymann (1896–1961). Wohl kennt jeder seinen Jahrhunderthit Das gibt’s nur einmal sowie die Hauptschlager aus seinen Tonfilmoperetten, allen voran Die Drei von der Tankstelle (1930). Doch neben etlichen lexikalischen Einträgen und Spezialessays beläuft sich die Summe der einschlägigen Publikationen auf nur wenig Aktuelleres. Da sind einmal Heymanns Lebenserinnerungen, die 2011 von Hubert Ortkemper neu ediert wurden. Und im selben Jahr brachte Hentrich & Hentrich mit Nr. 113 seiner Jüdischen Miniaturen einen wertvollen Lebens- und Werküberblick mit dem Untertitel Berlin, Hollywood und kein Zurück. Zwar zeichnet dessen Verfasser Wolfgang Trautwein, langjähriger Archivdirektor an der Berliner Akademie der Künste, nicht verantwortlich für die hier besprochene Neuerscheinung, spielt jedoch eine Hauptrolle in ihren finalen Kapiteln. Und diese bilden den Jetztzeit-Epilog zu den Kindheitserinnerungen der Autorin, seiner Ehefrau Elisabeth Trautwein-Heymann, die als einziges Kind des Komponisten, geboren 1952 in dessen vierte Ehe, ihre Erlebnisse mit den Eltern und deren prominentem Bekanntenkreis schildert.
Die Fakten an sich konnten im wahrsten Sinne nur „durch Kinderaugen“ ins Gedächtnis gelangen. Schließlich war sie erst achteinhalb Jahre, als der Vater starb. Intuitiv spürte sie ein Bedürfnis, das Charakteristische, das es als goldnen Schein eben nur einmal gab, mit Hilfe eines guten Gedächtnisses unauslöschlich zu bewahren. Die ausstehende große Heymann-Erforschung ist es auch diesmal nicht, dafür eben eine Herzensangelegenheit völlig anderer Natur. Doch neben Privatem geht’s auch ums Fach. Denn neben Familie Heymann agiert ein stattliches Personenaufgebot aus Metier und Branche, das sich von originellen oder auch menschlich-allzumenschlichen Seiten zeigt.
Wer von Heymann noch einen Steckbrief braucht, kommt vergnügt in den Genuss einer literarisch besonders gewitzten Version: seiner eigenen „Autobiographie im Telegrammstil“ von 1958. Dass er in kurzer Selbstreflexion zu seinem Meistgeliebten Frau, Kind und die Welt überhaupt erklärt, beglaubigen mit viel Seele, Herz und Gemüt die hier gesammelten kleinen Geschichten, Episoden und Miniaturen, die in anmutig schlichtem Erzählton und rührender Emotionalität, oft verbildlicht durch Schnappschüsse, die Empathie und Phantasie des Lesers beflügeln. Sich selbst stellt die Autorin mit ihrem langjährigen Kosenamen vor: „Ich war Kiki.“ (S. 13) Und da im Haus tagtäglich die Musik des Vaters live ertönte, bildeten er und seine Melodien die „Zentralsonne meiner Kindheit.“ (S. 15) Bevor es an einzelne Schlaglichter geht, werden Hauptplot und Ambiente im Zeitraffer exponiert: zunächst das „Lebenszimmer“, Zentrum des Familien- und Gesellschaftslebens in der Schwabinger Wohnung, wo manch illustrer Musikbesuch gerne vom Esstisch für ein paar Takte an den Bechstein-Flügel (darauf ein „Engelorchester“ im Figürchenformat) wechselte, während „Kiki“ mit ihren Stofftierchen kauernd unterm Tisch lauschte; dann jene Hochämter in denselben Wänden, wenn der Vater mit Granden wie den hier exemplarisch genannten Chanteusen Trude Hesterberg und Kate Kühl probte. Nicht ohne Emphase spricht die Rückschau vom „Eingangstor in die Welt der Töne, Klänge, Lieder, Noten und Texte“, „meine Seele hat getanzt.“ (S. 20)
Vorwiegend erfreulich folgen Begebenheiten mit Walter Mehring (half bei Rechenaufgaben), dem Arrangeur Gert Wilden, Friedrich Hollaender, dem Tankstellen-Co-Autor Franz Schulz-Spencer, Margot Hielscher, Coca-Cola, Lilian Harvey (auf deren französischem Villengelände Kiki Hühner einsperrte), Hans Albers oder dem Texter Kurt Schwabach. Keineswegs ausgespart bleiben Nachwirkungen ernster Schicksalsmomente: Wegen jüdischer Abstammung und trotz evangelischer Taufe war Heymann 1933 bei der UFA entlassen worden. Aus dem Exil kehrte er 1951 zurück. Warum er einem (anonymisierten) Herrn den Handschlag verweigere, will Kiki wissen. „‘Das war ein übler Nazi.‘“ (S. 47) Und den Sinn einer vermeintlichen Baskenmütze, die der Vater sporadisch trägt, versteht sie erst nach ein paar Jahren: eine Kippa an Jom Kippur und bei der Trauer um Freunde. Zwischen Burleskem (Reifenpanne mit Mischa Spoliansky, Schokopräsente von Erich Wolfgang Korngold) berühren zwei traumatisierende, erst im Nachgang psychisch verarbeitete Geschehnisse (Despektierliches, dann Konstruktives von Helen Vita, ein verlorener Sängerwettstreit gegen Heinz Maria Lins). Und die liebsten Freunde aus vergangenen Tagen bleiben Robert Gilbert, laut Journalistenbonmot „‘Heymanns DaPonte [sic]‘“ (S. 62), und Sohn Stephan.
Ins nostalgische Panorama aber strahlt zuvor schon die Gegenwart, die in Irgendwo auf der Welt ihren Heymann-Evergreen Nr. 1 entdeckt hat. Selbst vielseitig in Musik- und Tanzkünsten akademisch ausgebildet, reflektiert „Kiki“ ab ihrem 50. Geburtstag auf ihren geliebten Taufnamen Elisabeth, gibt ihren Beruf als Tanz- und Bewegungspädagogin auf, um von Salzburg zu ihrem Mann nach Berlin zu ziehen, der Stadt des Vaters ab 1912, wenngleich nicht Geburtsstadt. Die nämlich hieß Königsberg. Nach einem erfolgreichen Festkonzert muss hier für die Nachgeborene auf ihrer Spurensuche vieles imaginativ bleiben. Imaginativ nimmt man auch gerne teil am erträumten Weiterleben von Vater und 2005 verstorbener Mutter. Ins Blickfeld rücken schließlich neuere Aktivitäten der Heymann-Pflege. Und auch dies nicht ohne Überraschungen: erst ein Wiedersehen mit Georg Kreisler bei einer Ausstellung in Berlin 2000, dann – nach einer Filmmusikaufführung in München 2015 – eine Zeitreise an realem Ort. Man lese selbst! Ausklingend informieren 19 Kurzporträts präzise und hilfreich über die erlebten Künstler.
Andreas Vollberg
Köln, 02.11.2022