Thomas Seedorf: Enrico Caruso. Tenor des Jahrhunderts. – München: edition text + kritik, 2022. –119 S.: s/w Abb. (SOLO. Porträts und Profile)
ISBN 978-3-96707-612-7 : € 19,00 (kt.; auch als e-Book)
Thomas Mann spricht im Zauberberg von einer „weltbeglückenden Stimme, einem tenoralen Abgott“ (zitiert auf S. 75), Kollege Luciano Pavarotti sagt: „Egal in welchem Jahr, Caruso wird immer ein ‚moderner‘ Tenor sein, weil er mehr als jeder andere das geschaffen hat, was wir als modernen Tenorgesang bezeichnen“ (S. 56), für die Sopranistin Rosa Ponselle ist „Caruso … der größte Tenor, der größte Sänger und der größte Künstler, den ich je gehört habe“.
Caruso, 1873 als Errico Caruso in Neapel geboren, stammt aus ärmlichen Verhältnissen und wird, wie sein Vater, zunächst Handwerker. Seine Mutter unterstützt seine musikalische Entwicklung, schickt ihn in die Abendschule und in einen Kirchenchor. Ab 1891 nimmt er Unterricht bei einem professionellen Gesangslehrer, 1895 folgt sein offizielles Debüt als Opernsänger in der erfolglosen Oper L‘amico Francesco von Mario Morelli.
Engagements, Erfolge und Misserfolge – zumeist in der italienischen Provinz – folgten.
In Livorno lernt er 1897 die Sopranistin Ada Giachetti kennen, mit ihr hat er zwei Kinder, Rodolfo und Enrico Jr. 1898 singt er mit überwältigendem Erfolg den Grafen Loris Ipanoff in der Uraufführung von Umberto Giordanos Fedora, internationale Engagements folgen. Nach 1902 verlegt er den Schwerpunkt seines künstlerischen Wirkens ins Ausland, neben regelmäßigen Tourneen durch Europa und nach Südamerika ist ab 1903 ist die finanzstarke Metropolitan Opera in New York Zentrum seines künstlerischen Wirkens. Dort erhält er eine Gage von umgerechnet 70.000 € pro Vorstellung, einzelne Gastspiele werden noch höher bezahlt.
1918 heiratet er die Millionärstocher Dorothy Benjamin. Vermutlich an einer durch einen Bühnenunfall verursachten Infektion stirbt er 1921 in Alter von 48 Jahren in seiner Heimatstadt Neapel.
Zu Carusos Glanzpartien, auf die in diesem Buch näher eingegangen wird, zählen der Radames in Aida, der Duca di Mantova in Rigoletto und der Canio in I Pagliacci.
Von großer Bedeutung für Carusos Ruhm und Nachruhm ist die Schallplatte. Bereits 1902 macht er, zunächst eher nachlässig, erste Aufnahmen. „Vesti la giubba“ (I Pagliacci) wird die erste Schallplatte überhaupt, die sich millionenfach verkauft. Bis 1920 werden 247 Seiten – Arien, Duette, italienische Canzoni – veröffentlicht; einerseits tragen diese geschickt vermarkteten Schallplatten mehr als seine ausgedehnten Tourneen zu Carusos Weltruhm bei, andererseits sorgen sie für die Anerkennung der künstlerischen Bedeutung der Schallplatte.
Der Schriftsteller Frank Thiess veröffentlichte zwei seinerzeit sehr populäre Caruso-Romane, Neapolitanische Legende (1942) und Caruso in Sorrent (1946) als „Versuch, den Mythos eines Mannes zu zeichnen, der durch seine Stimme Millionen beglückt hat. [Eine] Biographie [hat] mit äußerster Behutsamkeit die Wirklichkeit eines Lebens darzustellen, ein Mythos dagegen seine Wahrheit“ (Vorwort zur einbändigen Ausgabe, hier zitiert auf S. 15).
Der Sänger selbst und seine frühen Biografen waren an der Wirklichkeit von Carusos Leben in der Regel ebenfalls weniger interessiert, Idealisierungen und Verfälschungen wurden von Buch zu Buch weitergetragen. Erst My father and my family von Enrico Caruso Jr. und Andrew Farkas (Portland 1990/1997) versuchte, viele Ungenauigkeiten richtig zu stellen.
Auch in deutscher Sprache erschienen regelmäßig Caruso-Biographien. So 1922 die Erinnerungen an Caruso seines europäischen Managers Emil Ledner, 1924 die Biografie des amerikanischen Musikkritikers Pierre Key, dann die beiden Erinnerungsbücher seiner Ehefrau Dorothy (1929 und 1954) gefolgt von den Biografien von Pietro Gargano und Gianni Cesarini (1991), Howard Greenfield (1992) und Christian Springer (2002), sie alle sind nicht mehr lieferbar.
Seedorf, seit 2006 Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik Karlsruhe, hat die überaus zahlreichen Quellen zu Caruso offenbar aktuell und gründlich gesichtet.
Sein Buch ist präzise, gut formuliert, beleuchtet Leben und Kunst des Sängers in unterschiedlichen Facetten. Auch in Hinsicht auf den 150. Geburtstags Carusos im nächsten Jahr 2023 eine lohnende Lektüre bzw. Anschaffung. Kurz gesagt: ein Bravo für Caruso, ein Bravo für Seedorf!
Oliver Wurl
Berlin, 22.10.2022