Ursache und Vorwitz. Walter Zimmermann im Gespräch mit Richard Toop / Hrsg. von Walter-Wolfgang Sparrer. – Hofheim: Wolke, 2019. – 312 S.: s/w-Fotos, s/w-Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-95593-095-0 : € 29,00 (brosch.)
Das Buch, dessen Hauptteil auf Gesprächen basiert, die der englisch-australische Musikwissenschaftler Richard Toop – bekannt geworden als brillanter Stockhausen- und Ferneyhough-Exeget – anfangs der 2000er Jahre mit Walter Zimmermann (*1949) geführt hat, ist bereits im Frühjahr 2019 anlässlich des 70. Geburtstags des Komponisten erschienen. Der Herausgeber Walter-Wolfgang Sparrer, Gründer und Leiter der Internationalen Isang Yun Gesellschaft und Mitherausgeber des fortlaufend erweiterten Lexikonprojekts KDG (Komponisten der Gegenwart), beschreibt im Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches. Ursprünglich waren die Gespräche als Material für eine geplante Zimmermann-Monografie gedacht. Da das Projekt ins Stocken geraten war, übernahm Sparrer ab 2012 die Transkription der Gespräche und ordnete sie chronologisch. Der Tod Richard Toops 2017 brachte schließlich die ursprüngliche Konzeption, die Gespräche zu kommentieren, zum Erliegen, doch Sparrer stellte das Buch in Zusammenarbeit mit Zimmermann fertig. Herausgekommen ist ein wunderbares mit Gewinn zu lesendes Buch, eine Monografie, die neben den Einblicken in Zimmermanns Schaffen auch zahlreiche biografische Details bereithält und zusätzlich interessante Einblicke in die Szene der Neuen Musik ab dem Ende der 1960er Jahre bietet. Ergänzt wird der reich bebilderte Band durch einen ausführlichen Anhang inklusive eines Werkverzeichnisses, einer Diskografie, Filmografie, Bibliografie, einem Register und mehr.
Walter Zimmermann ist im ländlichen Franken aufgewachsen, Kindheit und Jugend spielten sich in Schwabach, Nürnberg und Fürth ab. Während der Schulzeit entwickelte sich ein starkes Interesse an Philosophie und Literatur von den antiken Denkern über Novalis und Wackenroder bis hin zu Adorno und Jünger, um nur die markanten Namen zu nennen. Das Interesse an Literatur dringt seit den kompositorischen Anfängen in sein Musikmachen ein, zahlreiche seiner Werke basieren auf literarischen oder philosophischen Ideen und Anregungen. Zugleich beruhen sie auf Vorstrukturierungen des Materials, die indes wenig mit (beispielsweise) seriellen Verfahren zu tun haben, die in den 1950er Jahren entwickelt wurden, um die musikalische Sprache von historischem Ballast zu befreien. Zimmermann ist hier deutlich näher an John Cage mit dessen frühen minimalistischen Stücken als an den europäischen Komponisten der Nachkriegszeit. Die Entdeckung der Musik der amerikanischen Außenseiter Cage und Morton Feldman führte zu einer USA-Reise Mitte der 1970er Jahre, als deren Resultat ein wegweisendes, kürzlich wieder aufgelegtes Buch entstand: Desert Plants, Gespräche mit 23 amerikanischen Musikern. Der Eindruck einer gänzlich anders, dezentral strukturierten Musikkultur als der europäischen führte zu einer der frühesten Werkreihen Zimmermanns, der Lokalen Musik (der Komponist hat sein musikalisches Werk in einem systematischen Werkverzeichnis so angeordnet, dass die Gruppierungskriterien nicht wie üblich über die musikalische Gattung oder Besetzung definiert sind, sondern über inhaltlich-thematische Bezüge, darin Dieter Schnebel verwandt). Zugrunde liegen den mehr als ein Dutzend Werken der Lokalen Musik Tänze und Melodien aus Franken, die mittels Sublimationsverfahren abgetastet werden, ohne das Ausgangsmaterial zu beschädigen – quasi eine Überführung vom Realen ins Imaginäre, wie es Albert Breier formuliert hat. Das Lokale (der „Lokalen Musik“), auf einen bestimmten Ort verweisende, ist für den Komponisten nicht deckungsgleich mit dem exkludierenden Begriff des Nationalen, denn die Musik existiert davon losgelöst, nicht durch eine an die Idee von Heimat gebundene Identität zweifelhafter Provenienz. Zimmermann zitiert hier Pasolini: Das bäuerliche Universum ist transnational. Es erkennt Nationen nicht einmal an. Und Morton Feldman sprach davon, dass das ganze Europa durch Katastrophen hindurchgegangen sei, etwa durch die Pest im Mittelalter, während die amerikanischen Siedler ihre Orte einfach verlassen haben und weitergezogen sind. Die ersten Aufführungen aus der Lokalen Musik Ende der 1970er Jahre, etwa bei den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik und den Donaueschinger Musiktagen, führten zu teils heftigen Reaktionen bis hin zu Faschismusvorwürfen (Zimmermanns Erinnerung, die Aufführung von Teilen der Ländler-Topographien sei durch die Nachbarschaft von Lachenmanns Tanzsuite mit Deutschlandlied im selben Konzert quasi erdrückt worden, scheint auf einem Irrtum zu beruhen: Die Tanzsuite wurde erst ein Tag später uraufgeführt). Zum einen waren diese Jahre geprägt von der Tendenz zur Globalisierung, deren unglückliche Ausprägung in den Begriff einer „Weltmusik“ eingeflossen ist und die vielleicht am beeindruckendsten in Karlheinz Stockhausens – gleichwohl nicht unumstrittener – Tonbandkomposition Hymnen realisiert wurde; zum anderen setzte Mitte der 1970er Jahre eine Gegenbewegung zur komplexen Musik der Nachkriegszeit ein, die unter dem Etikett Neue Einfachheit firmierte. Zimmermanns Werke weisen, besonders in den frühen Jahren, zwar eine eher konfliktfreie, statische Oberfläche auf, was den Hörer schnell auf eine falsche Fährte zu locken vermag, doch paradoxerweise erschließt sich Zimmermanns Musik nicht leicht, sie setzt den wissenden Hörer voraus (was in unterschiedlichem Ausmaß für jegliche Kunstmusik gilt). Im Rahmen eines Gesprächs anlässlich der Präsentation der vorliegenden Publikation äußerte Zimmermann, dass seine Musik häufig einfach klinge, aber auf konstruktiver Vorordnung beruhe – und sie sei für ihn stets mit der Anregung durch Literatur verknüpft, das Schreiben von Musik sei vergleichbar mit einer Transkription von Literatur. Nicht nur die Vielfalt der Anregungen und konstruktiven Verfahren führte bei Zimmermann zu einem überaus vielfältigen Werk, das sich jeglicher Einordnung entzieht – Richard Toop bemerkte zu Zimmermanns niemals auftrumpfender Musik, sie sei „a whispered conversation about hope“.
Die 12 Kapitel des Hauptteils des Buches (die beiden letzten Kapitel basieren auf Gesprächen des Herausgebers mit Zimmermann) widmen sich zum einen biografischen Stationen, etwa der Jugendzeit, den Jahren in Köln, den Besuchen der Darmstädter Ferienkurse oder dem Stipendium in der Villa Massimo in Rom, wo sein Namensvetter, Bernd Alois Zimmermann, Jahrzehnte früher weilte.
Die weiteren Kapitel greifen unterschiedliche Themen auf, nehmen einzelne Werkkomplexe in den Blick, vor allem aber kompositorische Verfahren wie etwa die Matrixbildung, die Idee einer nicht-zentrierten Tonalität und die ihnen zugrundeliegenden literarischen oder philosophischen Vorlagen bzw. Anregungen, auch Zimmermanns umfangreiche Bibliothek: Das der Literatur und dem Lesen gewidmete 10. Kapitel „In Walters Bibliothek“ ist gleichsam ein Gang in die „Wunderkammer des Geistes“, es darf wohl als Flucht- und Angelpunkt des Buches bezeichnet werden. (Gelegentliche Redundanzen, die in einer Gesprächssituation kaum ausbleiben, ließ der Herausgeber stehen, was dem Text und dem Lesefluss jedoch keineswegs zum Nachteil gereicht). Was an den Gesprächen besticht, ist – neben ihrer Lebendigkeit – des Komponisten umfassende Bildung, mithilfe derer er sich einen Kosmos erschafft, der im musikalischen (und schriftstellerischen) Werk nicht nur Sedimente bildet, sondern sich darin, wie der Komponist sagt, gar materialisiert. Durchaus untypisch, dafür aber umso sympathischer ist sein gänzlich uneitles Urteil über eigene Werke, von denen er nicht wenige als schwach oder gar als gescheitert einschätzt. Im Kontrast dazu stehen die teils unangenehmen Eitelkeiten, denen Zimmermann bei so manchem Komponisten und mehr noch Interpreten begegnet: sie sind die Ursache für eine gewisse Distanz, die der Komponist um 1970 zur „etablierten“ Avantgarde aufbaute. Wichtiger für den Leser indes sind die zahlreichen Erlebnisse und Anekdoten, die einen privaten Blick jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung auf seine Zeitgenossen werfen – hier ist es insbesondere Morton Feldman, dessen durchaus nicht einfacher Charakter Zimmermann besonders angezogen hat.
Ergänzt werden die Gesprächskapitel um zwei Texte von Walter Zimmermann und Richard Toop und – wie Toops Text in englischer Sprache – um einen berührenden Nachruf auf Toop von Rachel Campbell.
Das redaktionell sorgfältig gestaltete Buch ergänzt nicht nur die grundlegenden Schriften von Albert Breier über Walter Zimmermann, es präsentiert dessen Gedankenwelt aus erster Hand – und es bietet ein überaus spannendes Lesevergnügen, das dem aufmerksamen Leser nicht wenig abverlangt, ihn dafür aber reich belohnt und Lust aufs Hören bereitet.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 16.10.2022