Regina Fröhlich: Unternehmerorchester und ihre Reisen. Lebenswelt – Wirkungsorte – Kulturtransfer. – München: Allitera, 2021. – 339 S. (Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik ; 14)
ISBN 978-3-96233-260-0 : € 36,00 (kart.)
Josef Gung’l (1809–1889) und Benjamin Bilse (1816–1902) zählen heute nur noch bedingt zur Prominenz der Dirigenten/Komponisten. Wohl wurden ihre seinerzeit populären Tanzkompositionen sporadisch neu aufgelegt. Doch mit medial reduzierten Angeboten von gehobener Unterhaltung schwinden auch hier die Chancen eines nachhaltigen Revivals. Und gerade Bilses Reputation krankt am Zerrbild eines ungeliebten Gutsherrn-Kapellmeisters, dem eine renitente Fraktion seiner Truppe den Gehorsam versagte und kurzerhand die Berliner Philharmoniker gründete. All dies ändert nichts an der Tatsache, dass Gung’l wie Bilse als Orchesterleiter hohen Ranges einen weithin unterschätzten Einfluss auf die Musikkultur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ausübten.
Und für die Musikologin Regina Fröhlich, studiert auch in Anglistik und Italianistik, firmieren sie in ihrer Hamburger Dissertation als Hauptexponenten eines spezielleren, übergeordneten Untersuchungsobjekts: der sogenannten Unternehmerorchester, die von etwa 1830 bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Musikbetrieb deutlich nachhaltiger prägten als musikhistorisch bislang gewürdigt. In klarer Abgrenzung zur Komparatistik, kurz dem Vergleich differenter Kulturen, geht es hier dezidiert um einen Beitrag zur Kulturtransferforschung mit Fokus „auf den Mittlerinstanzen und auf der Analyse der Austauschprozesse.“ (S. 12) Die Akzente auf Gung’l und Bilse werden triftig begründet mit einem recht ergiebigen, gegenüber vergleichbaren Kollegen reicher überlieferten Fundus an Quellen, Dokumenten, Korrespondenzen und Pressestimmen. Eine weitere Rolle spielen Gemeinsamkeiten wie die enge Kooperation mit dem Verlag Bote & Bock. Kritisch und kundig informiert ein Abriss über den bisherigen Forschungsstand, dessen Nutzung und Zitierung neben den Quellen fortlaufend akribisch annotiert ist.
Wie aber entstand und definierte sich der Typus Unternehmerorchester? Beredte Antwort gibt das erste von drei Großkapiteln: Die sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche im Zuge der Industrialisierung, während der sich Bürgertum und Massengesellschaft etablierten, forderten auch künstlerisch ihren Tribut. Ein breiteres Publikum verlangte konzertante Unterhaltung, teils zur klangvollen Untermalung geselliger oder feucht-fröhlicher Zusammenkünfte, ja familiärer Verlobungsbörsen in stadtbekannten Etablissements, teils zum aufmerksamen Kennenlernen der neuen zeitgenössischen Strömungen. Unerschwinglich war für den Werktätigen oder Dienstleistenden das Entree in die konservativen Tempel der Hofkapellen. Jene buntscheckige Nachfrage nun bedienten erfolgreich und „für fünf Silbergroschen“ einige Idealisten, indem sie sich selbstständig machten und ohne jegliche Subvention ihr eigenes, persönlich organisiertes Orchesterunternehmen aufzogen. Biographische Porträts, deren Einzelaspekte erst die Vorlage zum Gros der Untersuchung markieren, verhelfen zunächst zur Bekanntschaft mit den beiden Protagonisten: mit dem Ungarn Gung’l, der auf Anregung des Berliner Verlags Bote & Bock aus militärmusikalischen K.u.k.-Sphären an die Spree wechselte, dann dort wie auch in Wien oder München sowie im Ausland bis hin zu den USA trotz unsteten Budgets zum Publikumsfavoriten avancierte, Bekanntschaft dann mit Bilse aus dem preußischen Liegnitz, der die Misslichkeiten der dortigen Stadtmusik abstreifte, um es als Selfmademan in der Reichshauptstadt zu einer legendären Institution zu bringen, etwa in der Nachfolge Gung’ls im Medding’schen Konzerthaus, unterwegs dann durch Deutschland und Osteuropa, renommiert z.B. als (vergeblich ersehntes) Wunschorchester Anton Bruckners.
Exzellent recherchiert und belegt, zugleich fachbegrifflich hochqualifiziert und ansprechend formuliert, skizziert Fröhlich ein komplexes Beziehungsgeflecht diverser Faktoren in ihrer synergetischen Wirkungskraft. Gegenseitig pushten und bewarben sich Bote & Bock und die Maestri. Enorm wuchs mit den Ansprüchen des Publikums die Spielqualität. Und bevor sich durch Fragmentierung der Mittelschicht die Repertoirelinien trennten, standen die kanonisierten Klassiker (Beethoven, Schumann) und Zukunftsmusiker (Wagner, Liszt) neben Populärem und Beliebtem der Strauß-Dynastie, ihren Adepten oder Piecen der Orchesterchefs, deren Kombinationen von Ernst und Heiter explizit unter einer geschmacksbildenden, kulturpflegerischen Mission stand. Über allem aber schwebte das finanzielle Risiko. So waren auch nach klammer Saison alle Musiker vertragsgemäß mit voller Gage zu entlohnen.
Überhaupt schlägt das Thema Finanzen den Bogen zum Tenor im titelgebenden Kapitel II: den vielfältigen Tournee- und Reisetätigkeiten. Schließlich musste auch außerhalb der städtischen Konzertsaison im wahrsten Sinne des Wortes der Rubel rollen: Günstige Konditionen etwa gab’s in Pawlowsk, wo die russische Eisenbahngesellschaft den „musikalischen Bahnhof“ betrieb und finanziell verantwortete. In kluger Proportionierung rekonstruiert werden die Fakten zu Logistik, Programmatik (z.B. Benefizkonzerte), Geschäftsmodellen oder Kooperationen wie der von Bilse mit Johann Strauß zur Pariser Weltausstellung 1867. Zugleich wehen Atmosphäre und Zeitgeist herüber dank vieler großzügig referierter Quellen und Rezensentenechos. Das kulturgeschichtlich brisanteste Sonderphänomen allerdings hat den Geschmack von Segen und Fluch zugleich, motiviert letztlich auch das dritte, nun auch kulturtheoretisch abstrahierender formulierte Kapitel „Transfer- und Verflechtungsprozesse“: Gastspiele der Unternehmerorchester deckten Defizite der einheimischen Musikbetriebe auf und inspirierten ambitionierte Bürgerschaften zur Gründung und Professionalisierung institutioneller Orchester. Folge: die Dämmerung der Unternehmerorchester um 1900.
Die Chronologie gedanklich zu sortieren, hilft ein Anhang mit statistischem Material. Voran gehen Kurzbiographien weiterer, teils häufig erwähnter Orchesterleitender – nicht nur –leiter! Denn alphabetisch angeführt werden Philipp Fahrbach sen. und jun., Béla Kéler, Josef Labitzky, Hans Christian Lumbye, Joseph Lanner & Co. durch Josephine Amann-Weinlich.
Andreas Vollberg
Köln, 12.10.2022