Siegfried Müller: Valeska Gert. Von Berlin bis Kampen auf Sylt. - Berlin [u.a.]: Hentrich & Hentrich, 2022. – 180 S. Farb- und s/w-Fotos.
ISBN 978-3-95565-514-3 : € 19,90 (Klappenbrosch.)
Was haben Valeska Gert und Karl Lagerfeld gemeinsam? Nun, sie beide liebten Mode. Jeder auf seine ganz besondere Art und Weise. Lagerfeld als Designer und Gert als Modejournalistin – zumindest nennt man das wohl heute so. Und eigentlich hat sie diesen Beruf auch nur zwei Jahre ausgeübt, nämlich direkt nach ihrer Schulzeit, in den Jahren 1913 bis 1914. Doch noch etwas ganz Anderes verbindet die beiden miteinander: Karl Lagerfeld zeichnete 2012 die Umschlagsvignette für ihre Autobiografie. Schön, werden sich die einen jetzt fragen, doch wer ist Valeska Gert? Die anderen wiederum stellen vielleicht die Frage: Schon wieder ein Buch über Valeska Gert?
Valeska Gert – von Berlin bis Kampen auf Sylt hält für beide Gruppen an Fragestellenden etwas bereit. Wie im Vorwort beschrieben, begann die Geschichte des Buches, als der Autor Siegfried Müller und seine Frau bei einem Besuch des Heimatmuseums Keitum auf Sylt die erste Ausstellungseinheit mit dem Thema „Ziegenstall” sahen, jenem berühmt-berüchtigten Kabarett in Kampen, welches die Grotesktänzerin Valeska Gert von 1951 bis zu ihrem Tod 1978 betrieb. Doch zurück zum Anfang.
Wie es sich gehört, erfährt die Leserschaft im Teil über Kindheit und Jugend zunächst einiges über die 1892 in eine jüdische Familie des Berliner Bürgertums hineingeborene Valeska (Ja, dieses Jahr wäre die „Grande Dame des Dirty Dance” 130 Jahre alt geworden!), welche schon als Kind kaum zu bändigen war und durch ihren großen Bewegungsdrang auffiel. Jedoch zeigte sich auch schon damals eine ganz andere Seite: Von Lehrenden wurde sie als Teenagerin mit “enfant terrible” betitelt und schon damals gehörten zu ihren Markenzeichen: ein auffallendes Make-up und Outfit sowie ein kurzer, dunkler Pony-Bob. Damit fiel sie auch später auf der Bühne stets auf wie ein bunter Hund. Denn schon von Anfang an wollte Valeska Gert ihre eigene Persönlichkeit zur Geltung bringen. Zu Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit arbeitete sie als Schauspielerin und Kabarettistin, schnell stellte sich aber ihre wahre Berufung und Passion heraus: der (Grotesk-)Tanz! Als Künstlernamen verkürzte sie ihren zweiten Vornamen (orig. Valesca Gertrud Samosch).
Hier wie da fiel Gert stets für ihre groteske Schamlosigkeit und Körpersprache auf. Theaterkritiker feierten ihren Ausdruck als „Sonderklasse der Exzentrizität” (S. 14). Die moderne Tanzsatire war geboren! Ihre Choreografien entstanden oft aus der Improvisation heraus. Die musikalische Begleitung war vielfältig: Klavier, Bandoneon, Leierkasten, Saxophon oder Wurlitzer Orgel. Sie liebte den Jazz sämtlicher Coleur und war von ihm fasziniert. Da kamen ihr die goldenen Zwanziger gerade recht. Man stelle es sich bildlich vor, das Berlin der 20er Jahre als Zentrum moderner Literatur, Filmkunst, Musik, Theater, Rundfunk und Verlage – und mittendrin Valeska. Mit ihrer Tanzwut lag sie dabei voll im Trend der Zeit. Denn mit ihren Tänzen gab sie ihrer Zeit ein Gesicht. Noch heute ist die talentierte Tänzerin, die später leider von den Nazis ausgebremst wurde und in New York ein Kabarett betrieb, in dem sich viele Künstler trafen, den Leuten lebendig in Erinnerung. Seit den 80er Jahren sind diverse Publikationen erschienen, ihr bizarrer Auftritt in einer Talkshow von 1975 ist bis heute u. a. auf YouTube zu sehen, ebenso Filmsequenzen ihrer Choreografien.
Doch zurück zum Buch. Der Autor, seines Zeichens Historiker und internationaler Ausstellungskurator, zeigt anschaulich und spannend, welche Lebensstationen die Ausnahme-Künstlerin im In- und Ausland durchlief und welche ebenso spannenden Künstlerpersönlichkeiten sich in ihrem nahen Umfeld bzw. Freundeskreis befanden. Hier erhält man einen fokussierten Blick auf die Zeit in ihrem Nachtclub „Ziegenstall” auf Sylt. Wer ist dort aufgetreten? Wie waren die Programme aufgebaut? Wie sah das Interieur aus? Das sind nur einige Fragen, deren Beantwortung den Wissensdurst beim Lesen durch einen unheimlich detaillierten Blick auf die damaligen Verhältnisse und Geschehnisse stillt. Eine umfangreiche Beschäftigung mit Passion und Person ist unverkennbar. Dahinter kann und muss nur eine wirklich gute Recherche stecken. Schweift das Auge über die Zeilen, weht einem die frische Brise der Persönlichkeit Valeska Gerts entgegen, die mal die raue See des Meeres, mal das stille Wasser eines Teiches widerspiegelt. Das Sylter Heimatmuseum in Keitum zeigt nach wie vor eine Dauerausstellung unter dem Titel „Ziegenstall”. Und keine Sorge…Nicht nur diese, sondern auch das Buch Valeska Gert – Von Berlin bis Kampen auf Sylt erfüllt mit seiner fundierten und zugleich frischen Art sämtliche Erwartungen.
Rebecca Diana Berg
Bochum, 28.09.2022