Jürg Stenzl: Michael Boder. Dirigieren als Teamwork. – München: edition text+kritik, 2022. – 119 S.: s/w-Abb. (SOLO. Porträts und Profile)
ISBN 978-3-96707-598-4 : € 19,00 (kart.; auch als e-Book)
Zunächst scheint die Anpreisung etwas gewagt. Denn nicht weniger als ein Novum in der deutschsprachigen Fachliteratur attestiert sich edition text+kritik mit seiner neuen Reihe SOLO. Porträts und Profile, die sich herausragenden Charakteren der Klassikinterpretation im 20. und 21. Jahrhundert verschrieben hat. Und doch: Neben großformatigen Biographien und Anthologien suchte man tatsächlich nach einer prägnant informierenden Serie kurzgefasster, zugleich kompetent verantworteter Einzelstudien. Diese vermisst man zumal für Akteure, die nicht der breiten Masse namentlich bekannt sind, dafür öffentlich unauffällig, doch individuell den Klassikbetrieb am Leben halten. Wohl steht auch eine Palette der Prominenz von Enrico Caruso oder Leo Blech über Herbert von Karajan und Birgit Nilsson bis Tabea Zimmermann laut Flyer und Website auf der Agenda.
Kaum getippt aber hätte man auf zwei Namen, die stellvertretend für den aktuellen Musikbetrieb schon jüngst dazustießen: die Dirigentin Simone Young und ihr Kollege Michael Boder. Für diesen bricht eine Lanze der wissenschaftlich vom Mittelalter bis zur Gegenwart versierte Schweizer Jürg Stenzl, Jahrgang 1942 – allgemeinverständlich, stilistisch flüssig, auch im Fachspezifischen anschaulich, mit sprechender Bildauswahl. Warum Boders „Name nicht gleich fällt, wenn von bedeutenden Dirigenten die Rede ist“ (S. 12), klärt eine Skizze zur Entwicklung des Dirigentenberufs, der vom dirigierenden Komponisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur alles dominierenden Funktion des Orchesterspiels wurde. Dank technischer Reproduzierbarkeit entstand sekundär die Disziplin der Interpretationsgeschichte. Und vom Espressivo-Dirigenten, unter dessen Tempi rubati kein Takt wie der andere lief, übernahmen seit den 1920-er Jahren die Neusachlichen den Taktstock und tendierten zu einheitlicheren Zeitmaßen und analytischer Durchdringung – eine Tradition, in der Stenzl selbstverständlich auch Michael Boder, geboren 1958, verortet. In Schemata aber, die zwischen Stardirigenten, Traditionalisten und Avantgarde-Spezialisten trennen, sei Boder kaum einzuordnen. Schwerpunkte liegen im 19. und 20. Jahrhundert, dort zumal in dessen zweiter Hälfte.
Überraschend knapp, aber deutlich wertend und quellenreich, erschließt sich Boders (bisherige) Vita: Darmstadt als Geburtsort resultiert aus einem Opernengagement seines Vaters, des Bassisten Ludwig Boder, dessen nächster Wirkungsort Lübeck für Michael ein frühes Bühnendebüt als Maries Kind in Alban Bergs Wozzeck mit sich brachte. Der Berufswunsch Dirigent verfestigte sich zu Schulzeiten. Und schon vor Abschluss des Hamburger Studiums assistierte der Hochbegabte während eines Aufenthalts in Florenz Zubin Mehta. Nachhaltig prägend wurde die Zeit von 1984 bis 1988 an der Oper Frankfurt, die kreativ unter Michael Gielen und Klaus Zehelein Furore machte. Eine erste Chefposition folgte an der Oper Basel 1989 bis 1993. Doch wie der innovative Intendant Frank Baumbauer verlängerte auch Boder, frustriert von Spardiktaten, seinen Vertrag nicht. Inzwischen gefragter Uraufführungsdirigent (Luca Lombardi: Faust, 1991) und Fürsprecher von Zeitgenossen, blieb Boder 15 Jahre lang freischaffend mit Schwerpunkt Oper, sukzessiv auch Konzert. International tätig blieb er auch während der beiden, ebenfalls wegen Budgetfragen jeweils nicht von ihm verlängerten Chefpositionen am Gran Teatre del Liceu in Barcelona 2008 bis 2012 , danach für vier Jahre am Königlichen Dänischen Theater Kopenhagen. Eine Statistik zu Operndirigaten ab 2016 weist neben einem Richard-Strauss-Akzent Werke u.a. von Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini über Manfred Trojahn und Gottfried von Einem bis zu Uraufführungen von Christian Jost und Thomas Larcher auf. Redaktionsschluss für dieses Kapitel: Corona Frühjahr 2020.
Den Großteil des mit 19 x 12 cm griffigen Bändchens reserviert Stenzl ganz für Boders künstlerisches Profil. Zunächst übernimmt er einen 2000 in Wien erschienenen Artikel von Joachim Reiber. Handele es sich doch um „das bislang wohl intensivste und umfassendste Bild dieses Musikers“ (S. 37), der laut Reiber bei Bergs Lulu „das immense lyrische Potential des Staatsopernorchesters“ (S. 37) ausreizte und wie sein Vorbild Michael Gielen „musikalische Integrität“ favorisiert, d.h. „Sich-Zurücknehmen“, um „die Musik objektiv darzustellen“ (S. 44). Zwar nur ein Bruchteil seines Gesamtrepertoires, sind Boders CD- und DVD-Aufnahmen ein eigenes Kapitel wert. Nach Max Bruch in frühen Jahren folgen konzertant Gloria Coates, Morton Feldman oder Igor Strawinsky. An Bühnenwerken erschienen Detlev Müller-Siemens‘ Die Menschen und Aribert Reimanns Das Schloss in Audio-, in Videoeinspielungen exemplarisch Reimann, György Ligeti, Arnold Schönberg, Berg oder Larcher. Werkdaten und –kommentare münden in die Spezifika der Boderschen Interpretationen. Auffällig, wenn auch begründet, waltet allenthalben ein uneingeschränkter, kritische Stimmen relativierender Zuspruch, der etwa Boders Sacre-Einspielung eine imaginierte Bühnennähe bescheinigt, wie sie selbst der Komponist nicht erreicht habe.
Aus Rezensentenechos und Selbstäußerungen destilliert ein Kapitel zur Arbeit in Opern- und Konzerthäusern die Essenz des Boderschen Arbeitsethos: die „leitende Tätigkeit im Sinne einer Zusammenarbeit mit den Sängern, dem Chor und dem Orchester, aber auch mit dem Regisseur und dem Bühnenbildner“ (S. 92), bestenfalls mit dem Komponisten, kurz: Teamarbeit. Ansehen und menschliche Wertschätzung bei Intendanzen, Komponisten, Regisseuren und SängerInnen honorieren 14 O-Töne unter dem Titel „Andere über Michael Boder“. Statistisch honorierend umfasst ein Anhang Repertoire, Uraufführungen, geleitete Orchester, Disko- und Videographie, Filme und Interviews, Literatur und Zeittafel.
Andreas Vollberg
Köln, 24.06.2022