Kerstin Schüssler-Bach: Simone Young. Pionierin am Pult [Freia Hoffmann]

Kerstin Schüssler-Bach: Simone Young. Pionierin am Pult. – München: edition text + kritik, 2022. – 115 S.: s/w-Abb. (SOLO. Porträts und Profile)
ISBN 978-3-96707-606-6 : € 19,00 (kart.; auch als e-Book)

„Mut, Disziplin und Integrität“, „eine ständige Suche nach Ausdruckspotenzial“ und „Risikobereitschaft“ – mit diesen Worten wird die Dirigentin von Alexander Soddy charakterisiert, fünf Jahre lang Simone Youngs musikalischer Assistent an der Hamburgischen Staatsoper und heute Generalmusikdirektor am Nationaltheater Mannheim (zit. S. 54). „Sie musiziert mit dem ganzen Körper, sie ‚tanzt‘ regelrecht. Beim Dirigieren ist sie voller Energie und extremer Spannung“ (die Sopranistin Anne Schwanewilms, zit. S. 56). „Wunderbar, fantastisch klar und inspirierend“ (die Komponistin Elena Kats-Chernin, zit. S. 58). „Das Skurrilste, was ich mit ihr erlebt habe, war sicher eine Silvester-Vorstellung von Lehárs Lustiger Witwe in Hamburg. Da kam sie im 3. Akt plötzlich auf die Bühne und tanzte den Can-Can mit. Das tut nicht jeder Dirigent!“ (der Bariton Bo Skovhus, zit. S. 57). „Weibliche Dirigenten waren damals [1987/88] noch alles andere als selbstverständlich. Wenn sich dies heute glücklicherweise geändert hat, so ist es zu einem großen Teil auch ihr persönliches Verdienst – sie hat damals wirklich eine Mauer durchbrochen und damit ein bis dahin als selbstverständlich erscheinendes männliches Berufsbild des Dirigenten für alle Zeiten hinweggefegt“ (Andreas Homoki, Regisseur und jetzt Intendant des Züricher Opernhauses, zit. S. 18).

Aus einer Vielzahl solcher Statements und Erinnerungen von KollegInnen, zahlreichen Gesprächen mit Simone Young und – nicht zuletzt – eigenen ausführlichen Recherchen hat die Musikwissenschaftlerin Kerstin Schüssler-Bach ein eindrucksvolles Porträt zusammengestellt. Die Autorin hat an den Opernhäusern in Köln und Hamburg selbst als Dramaturgin mit Simone Young zusammengearbeitet und die Erfolge und Mühen einer Generalmusikdirektorin und Intendantin aus der Nähe miterlebt. Entstanden ist eine auch für Laien interessante und gut lesbare Biographie, die sehr detailliert auf Werdegang, Repertoire, Vorlieben und Abneigungen (z. B. gegen ausgefallene Regie-Konzepte) eingeht. Schwierigkeiten im Umgang mit „patriarchalisch geprägten“ Institutionen (S. 19) werden nicht verschwiegen, Youngs Rolle als Wegbereiterin für andere Dirigentinnen wird allerdings auch nicht als besonderes Qualitätsmerkmal betont. Das Thema zieht sich, so Kerstin Schüssler-Bach, „mehr in der Außen- als in der Selbstwahrnehmung als Kontinuum durch Simone Youngs Laufbahn […]. Früh zeigte sich, dass sie die noch immer gültigen Rollenklischees schlichtweg ignorierte“ (S. 18f.).

Die Musikerin wurde 1961 im australischen Manly geboren, und nichts wies anfangs darauf hin, dass sie drei Jahrzehnte später schon zu den vielversprechenden Talenten des Opernbetriebs gehören sollte. Im Gegenteil: Die Anfänge waren mühsam, sie hatte kein eigenes Klavier und finanzierte den Unterricht am Sydney Conservatorium of Music, indem sie Zeitungen austrug, kellnerte und auf Hochzeiten Orgel spielte. Das Studium von Komposition, Klavier und Flöte wurde ergänzt durch Theaterprojekte mit Laien und die Mitwirkung bei Musical- und Operettenaufführungen. Mit einem Diplom als Korrepetitorin startete sie ihre Berufstätigkeit an der Australian Opera in Sydney und ersetzte die fehlende Ausbildung zur Dirigentin bald durch praktische Erfahrungen und die vielfältigen Lernmöglichkeiten an einem großen Opernhaus. In der Spielzeit 1986/87 wurde ein Stipendium an der Kölner Oper zum Sprungbrett für die Karriere, die zu den Bayreuther Festspielen, Engagements in Berlin, Paris, London, Wien und Verpflichtungen als Chefdirigentin im norwegischen Bergen, in Sydney/Melbourne und schließlich von 2005 bis 2015 zum Doppel-Posten einer Generalmusikdirektorin und Intendantin der Hamburgischen Oper führte. Nach einer Phase freiberuflicher Arbeit, die sie in alle großen Opernhäuser und Konzertsäle der Welt führte, wird Simone Young ab Sommer 2022 Chefdirigentin des Sydney Symphony Orchestra.

Über ihr spätromantisches Repertoire hinaus hat sich die Musikerin – das wird an dieser Biographie deutlich – in überragendem Maß für zeitgenössische Musik eingesetzt, hat unbekannte Werke der Vergangenheit wieder zum Klingen gebracht und spektakuläre CD-Aufnahmen (z. B. der Bruckner-Symphonien in Urfassung) dirigiert. Ihr Bemühen, die Opern- und Konzertwelt aus ihrem ‚Elfenbeinturm‘ zu holen, beeindruckt immer wieder. So lud sie, bevor sie Korngolds Die tote Stadt einstudierte, das Ensemble „zu einem gut temperierten Rotwein“ ins ‚Heimkino‘ ein und präsentierte Erol Flynns Herr der sieben Meere (USA 1940) mit der Filmmusik von Erich Korngold (S. 46). In ihrer ersten Hamburger Spielzeit „stand Detlef Glanerts Die drei Rätsel mit Schülerinnen und Schülern aus Hamburger Schulen auf dem Spielplan. Später waren unter anderem Werke von Moritz Eggert, Pierangelo Valtinoni, Judith Weir und Samuel Hogarth in anspruchs- wie fantasievollen Inszenierungen zu sehen, bei denen Hunderte Hamburger Kinder auf, hinter und vor der Bühne ihre ersten Kontakte zum professionellen Musiktheater hatten“ (S. 40). Auch wenn sie als Intendantin durchaus das Budget im Auge hatte, reichte der Blick weiter: „Es geht nicht nur um den Ticketverkauf. Sicher wollen wir den Nicht-Konzertgänger als spontanen Kartenkäufer gewinnen, und vielleicht wird er einmal Abonnent oder sogar Förderer. Aber mindestens genauso wichtig ist es, den Menschen, die bislang noch nicht oder kaum mit klassischer Musik in Berührung gekommen sind, eine faszinierende Welt zu eröffnen, die so unendlich viel zu geben hat, emotional und kognitiv“ (S. 102).

Das Buch ist in der neuen Reihe „SOLO – Porträts und Profile“ des Verlages edition text + kritik erschienen. Ähnlich, wie es auch bei diesem Band gelungen ist, sollen als AutorInnen Fachleute aus Forschung und Praxis gewonnen werden. Auf seiner Homepage kündigt der Verlag 20 Biographien von „internationalen Interpretinnen und Interpreten des 20. und 21. Jahrhunderts“ an: 16 Männer und 4 Frauen. Wir sind zuversichtlich, dass dem Verlag außer Simone Young, Birgit Nilsson, Carla Henius und Tabea Zimmermann noch ein paar andere Namen von bedeutenden Interpretinnen einfallen.

Freia Hoffmann
Bremen, 11.05.2022

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