Jüdische Musik im süddeutschen Raum. Mapping Jewish Music of Southern Germany / Hrsg. von Claus Brockmaier und Tina Frühauf. – München: Allitera, 2021. – 271 S.: s/w-Abb., Notenbsp., Tab. (Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München ; 16)
ISBN 978-3-96233-273-0 : € 49,00 (geb.)
Wer sich künftig mit dem Leben und Wirken der Juden im süddeutschen Raum beschäftigt, kann an der vorliegenden Publikation nicht vorbeisehen. Auf umfangreichen Recherchen beruhend, bietet sie, verbunden mit der Musik, vielfältige Perspektiven des Themas. Darüber hinaus dürfte sie auch für Studien über andere Regionen wegweisend sein.
Herausgegeben wurde der Band von Claus Brockmaier, Honorarprofessor der Hochschule für Musik und Theater München, und Tina Frühauf, tätig an der Columbia University in New York, im Sommersemester 2019 DAAD-Gastprofessorin in München. Dort leitete die ausgewiesene Expertin für jüdische Musik, die u. a. mit einer grundlegenden Studie über Orgel und Orgelmusik in deutsch-jüdischer Kultur weithin Beachtung gefunden hat, eine wissenschaftliche Konferenz Jüdische Musik im süddeutschen Raum – Geschichte, Exil, Fortleben, die den Ausgangspunkt des Bandes bildet.
Denkbar unterschiedlich sind die Blickwinkel, die die Texte bieten. So widmet sich Tina Frühauf in ihrem einleitenden Beitrag über „Resonanzorte und jüdische Räume – Juden, Musik und Süddeutschland“ Spuren liturgischer Musik in historischen Handschriften – etwa jener von 1510/11 (S. 19) – oder späteren Drucken wie den Synagogengesängen von Jakob Tennenbaum (1854–1921, S. 22), die die Autorin in ihren Prägungen detailliert untersucht. Zugleich schafft sie mit ihren vielfältigen Annäherungen an das übergreifende Tagungsthema aufschlussreiche Brücken zwischen den Beiträgen des Bandes, die teils in englischer, teils in deutscher Sprache abgedruckt sind.
Tobias Reichard sucht drei Hauptschauplätze des Münchner Musiklebens während der NS-Zeit auf: „die Hauptsynagoge, das Palais Portia und das Musikhaus Koch“ (S. 39). Anhand dieser Fallbeispiele veranschaulicht er die „Wechselwirkungen zwischen Räumlichkeit und Musik“ (ebda.) in ihren besonderen Bedingungen, die sich nicht alleine aus kulturpolitischer Sicht erklären lassen.
Mehrere Autoren stellen einzelne Persönlichkeiten in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. So untersucht Jascha Nemtsov den Schaffensweg des Komponisten und Musikwissenschaftlers Jakob Schönberg (1900–1956), der in Fürth geboren wurde, in Nürnberg und München wirkte und nach der „Machtergreifung“ nach Berlin ging, wo er für die zionistische Jüdische Rundschau schrieb und mit seinen Kompositionen eine spezifisch jüdische musikalische Sprache zu entwickeln suchte. 1939 gelang ihm, nach London auszureisen, neun Jahre später ging er in die USA.
Geoffrey Goldberg bietet aufschlussreiche Recherchen über den Esslinger Kantor Mayer Levi (1814–1874), der weit mehr als ein „gewöhnlicher Kleinstadt-Chasan“ war, indem er „eine ganze Generation von württembergischen Kantoren“ (S. 130) geprägt hatte. Differenziert analysiert der Autor dessen bis heute unveröffentlicht gebliebenes synagogales Werk „an der Schnittstelle von Synagogengesängen vor und nach der jüdischen Emanzipation des 19. Jahrhunderts“ (S. 170). Er ermuntert dazu, diese musikalische Tradition unvoreingenommen wiederzuentdecken.
Einen weiteren Aspekt berührt Silvia del Zoppo mit ihren aufschlussreichen Forschungen über das musikalische Leben im „größte(n) faschistische(n) Internierungslager auf italienischem Boden“, nämlich „Ferramonti di Tarsia“, namentlich die „Beiträge süddeutscher jüdischer Gefangener“ (S. 174). Malcolm Miller schließlich kommentiert den Briefwechsel zwischen Paul Frankenburger (Paul Ben-Haim, 1897–1984), der aus München stammte und 1933 ins Exil nach Tel Aviv ging, und der Familie Crusius.
Dieses hier nur grob skizzierte Kaleidoskop an Zugangsweisen fügt sich nicht allein zu einem vielschichtigen Bild des jüdischen Lebens im süddeutschen Raum, verknüpft mit vielen neu erschlossenen Details und Zusammenhängen. Darüber hinaus ergeben sich wichtige Fragestellungen und methodische Anregungen für die Erforschung anderer lokaler Räume. Entsprechende Querverbindungen erschließen sich dem Leser in den Beiträgen an vielen Stellen, nicht zuletzt mit Hilfe des Namens- und Ortsregisters (S. 265–271).
So werden Interessenten des Leipziger jüdischen Lebens beispielsweise in der Studie von Dorothea Hofmann fündig, die das Bamberger Tagblatt systematisch ausgewertet hat: 1921 weilte der bedeutende Rabbiner Felix Goldmann (1882–1934) aus Leipzig, der sich zeitlebens für einen respektvollen gegenseitigen Umgang und die Annäherung von liberalen und orthodoxen Juden eingesetzt hat und immer wieder auch Nichtjuden jüdische Kultur näherzubringen suchte, in Bamberg. In der bayrischen Stadt hielt er einen Vortrag über den „Kulturwert des Judentums“ (S. 103 und 110). Auch die Betrachtungen zur Rolle des Chasans und zu den unterschiedlichen Traditionslinien, die Geoffrey Goldberg aufzeigt, bieten Anregungen für Untersuchungen von jüdischer Musik in anderen Orten und Räumen.
Thomas Schinköth
Leipzig, 11.01.2022