Tonhalle Zürich 1895–2021 / Hrsg. von Inga Mai Groote, Laurenz Lütteken u. Ilona Schmiel. – Kassel u.a.: Bärenreiter, 2021. – 191 S.: zahlr. Abb.
ISBN 9783761826089 : € 29,95 (geb.)
Die Geschichte eines Konzertsaales oder -hauses zu schreiben, ist immer mit einer doppelten Herausforderung verbunden. Einerseits erwartet der Leser eine (bau-)historische und (sozial-)geschichtliche Vorstellung des Saales, andererseits sollte der Nutzungszweck – sprich: vor allem die im Saal erklungene Musik – nicht zu kurz kommen. Die neue reich illustrierte Veröffentlichung zur Tonhalle Zürich, veröffentlicht anlässlich der abgeschlossenen Restaurierung der historischen Saalsubstanz 2021, bietet – zweisprachig in Deutsch und Englisch – vier Kapitel, dann folgt ein fast 90-seitiger reiner Bildteil.
Der heute bestehende Saal wurde 1895 eingeweiht, nachdem sein Vorgängerbau im ehemaligen Kornhaus 27 Jahre gute Dienste getan hatte. Friedrich Hegar war von 1868 bis 1906 Dirigent des Tonhalleorchesters, setzte mithin in den ersten Jahrzehnten viele wichtige musikalische Akzente. Nachdem 1887 ein erster Wettbewerb für eine neue Tonhalle zunächst ohne sichtbare Folgen blieb, erfolgte 1891 ein zweiter Wettbewerb, nun ausgerichtet auf den neuen, damals weder verkehrstechnisch noch anderweitig infrastrukturell hinreichend in die Stadt integrierten Platzes am Alpenquai. Der Preis wurde dem Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer zugesprochen, das schon die Pläne für das neue Zürcher Stadttheater geliefert hatte. Die Ausführung des neuen Gebäudes erfolgte von 1893 bis 1895, das Besondere ihres Entwurfes war einerseits die Zusammenführung von drei Sälen auf einer Ebene, andererseits eine äußerst ökonomische Gesamtkonzeption, so dass ihr Angebot finanziell weit unter den Konkurrenzplänen angesiedelt war.
In allzu großer Knappheit wird diese Geschichte der Zürcher Tonhalle (in manchen Aspekten selbst in einem 2020 erschienenen Buch über das Wiener Konzerthaus ausführlicher dargestellt) zusammengefasst; nur schlaglichthaft wird das Zürcher Musikleben skizziert, vieles bleibt in der neuen Veröffentlichung vage oder ungenannt. Stärkere Einblicke erhält der Leser in die nicht-konzerthafte Nutzung der Tonhallesäle. des Ballsaales, des Pavillons (auch als Bankettsaal) etc. Allzu knapp dokumentiert wird die veränderte Gesamtsituation infolge der Neu-Implementierung der Konzertsäle in das 1937–1939 zur Schweizerischen Landesausstellung erbaute Kongresshaus. Die Kollision von Ästhetiken und Nutzungen, der Bau eines neuen Kammermusiksaales anstelle des abgebrochenen Pavillons, die neue Wegführung etc., all dies wird kaum am Rande abgehandelt, so dass der Leser stetig nach mehr Informationen fragt. Ein kurzes Kapitel zur Akustik des Großen Saales der Tonhalle (die Akustik der anderen Säle wird nicht betrachtet) schließt den Textteil.
So opulent und hochqualitativ der Band bebildert ist – insgesamt haben die Herausgeber (zwei davon Musikwissenschaftler) die Chance verstreichen lassen, eine nachhaltige wertvolle Buchveröffentlichung zur Musikgeschichte Zürichs und selbst zur Geschichte der Tonhalle vorzulegen. Die Interpreten finden ebenso wenig Platz wie die Werke, und die Besonderheiten der Zürcher Musikgeschichtsentwicklung muss sich der interessierte Leser selbst zusammensuchen. Hierzu empfiehlt der Rezensent Rudolf Schochs Hundert Jahre Tonhalle Zürich 1868–1968 (Zürich: Atlantis, 1968), eine Veröffentlichung, die viele dieser Versäumnisse mildert, aber natürlich die Musikgeschichte der vergangenen 53 Jahre nicht berücksichtigen konnte; ergänzend sei auch auf „Ein Saal, in dem es herrlich klingt“. Hundert Jahre Tonhalle Zürich, hrsg. von René Karlen, Andreas Honegger und Marianne Zelger-Vogt (Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 1995) hingewiesen. Dass weder für 2018 noch für 2020 – rechtzeitig zu dem einen oder anderen Jubiläum der Tonhalle – eine entsprechende neue Publikation erarbeitet wurde, die diese Tradition in hoher wissenschaftlicher Qualität fortgeführt hätte, ist mehr als bedauerlich.
Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 23.01.2022